Wie wütend darf man sein? Warum gibt es Menschen, die murmeln und rauschen? Kann Trauer bewältigt werden? Warum sehen wir nicht nur mit dem Herzen gut?
„I talk like a river“, heißt dieses beeindruckende Buch über einen stotternden Jungen. Er leidet unter der gleichen Redefluss-Störung wie Autor Jordan Scott, der nun Mut machen will. Scotts Vater hat, als sie gemeinsam am Fluss standen, einst gesagt: „Siehst du das Wasser, Sohn? Wie es sich bewegt? Das bist du. So sprichst du.“ Zu dieser befreienden Szene erzählt das Bilderbuch hin, entlang eines Helden, der an einem Tag schweigt, weil er sich nicht traut, zu sprechen: „Das B in Baum treibt Wurzeln in meinem Mund und umzingelt meine Zunge. Das K ist eine Krähe, die sich in meinen Rachen krallt.“
Er schweigt, versteckt sich in der letzten Reihe. „Wenn der Lehrer mich etwas fragt, drehen sich alle zu mir um und schauen mich an.“ Doch als er versteht, dass sein Sprechen dem Murmeln und Rauschen des Wassers ähnelt, fühlt er sich frei und „am Morgen wache ich auf mit dem Klang der Wörter um mich herum. Ich gehe in die Schule und erzähle von meinem Lieblingsort. Vom Fluss.“ / Jordan Scott (Text), Sydney Smith (Illustration): „Ich bin wie der Fluss“, aus dem Englischen von Bernadette Ott, Aladin, 44 Seiten, 18 Euro (ab 5 Jahre)
Spätestens seit der kubistischen Tangram-Katze 2017 gilt Maranke Rinck als eine der einfallsreichsten Illustratorinnen der Niederlande – es war damals eine interessante Neuinterpretation des Klappbilderbuch-Klassikers „Kro-gu-fant“ von Sara Ball (1981). Ein Geheimnis durchzieht jetzt „Nanu, ein Fuß“ mit seinen scharf konturierten, quietschbunten Bildern, die sich vom nachtschwarzen Hintergrund einer mysteriösen Geschichte abzeichnen. „Zwischen zwei Bäumen, hoch über Gras und Land, schlafen Schildkröte, Fledermaus, Krake, Vogel und Ziegenboch in der Hängematte.“ Da bemerkt die Schildkröte einen mysteriösen, gigantischen Fuß. Die aufgeschreckten Tiere nähern sich einzeln dem unbekannten Wesen – und jedes von ihnen erkennt ein Detail. Das ist Radikaler Konstruktivismus übersetzt für Kinder ab 4 Jahre, die leichthin erfahren: Jedes Wesen hat seine eigene Perspektive, absolute Wahrheit gibt es nicht. In aufgeheizten Querdenker-Zeiten bekommt dieses Buch eine Aktualität, die gewiss nicht intendiert war – und gerade deshalb echte Kunst ist, interesseloses Wohlgefallen. / Maranke Rinck (Text), Martijn van der Linden (Illustration); „Nanu, ein Fuß!“, aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Schaltzeit Verlag, 36 Seiten, 15 Euro.
Für Kleinkinder erzählt der belgische Illustrator Frank Daenen in seiner ersten Übersetzung auf Deutsch von der Trauer. Vorm Winterschlaf planen Kleiner Bär und Großer Bär den Frühling. Nach vielen Monaten sind alle da, „alle, nur Großer Bär nicht.“ Still und betrübt inmitten seiner Freunde leidet der allein Zurückgelassene. Doch dieses Leiden wird nicht ausgeschmückt, es beschwert die kleinen Zuhörer nicht. Das Positive steht im Vordergrund dieses melancholischen Bilderbuchs, denn die Freunde versuchen aufzumuntern, „ab und zu gelingt das. Dann lächelt Kleiner Bär.“ Am Ende ist die Trauer kleiner als der Lebensmut, da wurde jemand getröstet. Kindgerecht sind die Bilder, dass der Große Bär gestorben ist, kann nur vermutet werden. Doch auf dem letzten Bild sitzt der kleine Held am Piano und im Sternenhimmel steht die Widmung: „Für Papa“. / Frank Daenen: „Heiße Milch mit Honig“, aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Bohem, 36 Seiten, 16,95 Euro (ab 3 Jahre)
Die Trotzphase gehört zu den anstrengenden Jahren – für Kinder wie Eltern. Sechs Jahre nach „Man wird doch wohl mal wütend werden dürfen“ nähert sich der niederländische Bestsellerautor Toon Tellegen erneut dieser verwirrenden Gefühlsregung und erzählt in zehn Geschichten von einer Feuerkröte, die aus dem Nichts die anderen Waldtiere triezt, auf dass sie wirklich wütend werden – nur weshalb? Das wird nicht verraten. Auch ist zunächst verborgen, weshalb die Schlange immer wütend ist: „Sie wachte wütend auf, und sie ging wütend schlafen. Sie hatte wütende Erinnerungen, wütende Träume und wütende Wünsche. (…) Wenn sie Geburtstag hatte, war sie wütend, wenn ihr die Tiere gratulierten.“ Toon Tellegen zeigt keine simplen Erklärungen für psychische Regungen, er findet poetische Bilder für das Ich, das größte Geheimnis der Welt. / Toon Tellegen (Text), Marc Boutavant (Illustration): „Wird denn hier keiner wütend?“, aus dem Niederländischen von Bettina Bach, Hanser, 72 Seiten, 16 Euro (ab 6 Jahre)