Von höchst unterschiedlichen Reisen erzählen drei der schönsten Bilderbücher dieses Herbstes – mit einem Mauselefanten, einem tierischen Flüchtlingstreck, dem Kaninchen Sweety und einer bunt zusammengewürfelten Schar kleiner Individueen.
Den Brüdern Terry, David und Eric Fan ist mit „Projekt Barnabus“ ein phantastisches Bilderbuch gelungen, das von einem kleinen, gentechnisch veränderten Mauselefanten erzählt, der niedlich ausschaut, aber angeblich nicht niedlich genug ist, um im Geschäft für perfekte Kuscheltiere angeboten zu werden. Als die Laborangestellten beschließen, Barnabus und seine übriggebliebenen Ausschusswaren-Freunde zu vernichten, wagen die einen gemeinsamen Fluchtversuch. Zahlreiche Kinderbücher erzählen von nicht perfekten Individuen, deren Leben ein mutmachendes Vorbild für die kleinen Leserinnen und Leser sein soll. Der Clou von „Projekt Barnabus“ ist, dass die angeblich unperfekten Viecher auf eine derart herzerweichende Weise gestaltet sind, dass jedes Kind ungläubig mit dem Kopf schütteln wird, wenn ihm gesagt wird, ausgerechnet diese Plüschtier-Combo gehörte aussortiert. Tatsächlich sind sie nicht nur sympathischer, sondern als Kuscheltier besser geeignet als jene, die ins Regal sortiert wurden. (Fan-Brüder: „Projekt Barnabus“, Verlagshaus Jacoby & Stuart, 72 Seiten, 16 Euro, empfohlenes Lesealter: 3-6)
Die 1980 in Lima, Peru geborene Issa Watanabe hat mit „Flucht“ einen beklemmenden, eher für Erwachsene denn für Kinder geeigneten Reigen entworfen. Vor düsterem Hintergrund wird die Geschichte einer beschwerlichen Wanderschaft erzählt. Die erste Illustration zeigt den blauen Ibis, der ein Skelett Huckepack genommen hat – und erinnert damit an barocke Memento-Mori-Stiche. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, sagten einst die Bremer Stadtmusikanten. Hier ist der Tod unheimlicher Begleiter eines Trecks, der durch die Dunkelheit, über das Meer, zum blühenden Sehnsuchtsort gelangt. Selbstverständlich bräuchte „Flucht“ keine deutsche Fassung, da es ohne Worte auskommt – aber die verdiente Aufmerksamkeit ist ihm so natürlich eher gewiss. Ein Kunstwerk. (Issa Watanabe: „Flucht“, Carl Hanser, 40 Seiten, 16 Euro)
Wie Piktogramme wirken die verschiedenen Menschen in „Du und ich und alle anderen“ des spanischen Illustrators Marcos Farina – und aufgrund dieser Stilisierung wird trotz offensichtlicher Unterschiedlichkeiten das Verbindende offenbar. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Differenz liegt der kindgerechte Reiz. Es ist die vereinfachende Übertragung von Luhmanns Systemtheorie aufs Kinderbuch. Jeder ist mal traurig, jedoch auf unterschiedliche Weise, jeder nutzt den Spielplatz aus ähnlichen Gründen, und macht jedoch etwas anderes als sein Nachbar. Hier treffen sich Wimmelbild und Humanismus. (Marcos Farina: „Du und ich und alle anderen“, erzählt von Maria-Elisabeth Niebius, Kleine Gestalten, 32 Seiten, 14,90 Euro, Lesealter: 3-5)
Schau genau: Eine hinreißende Überforderung ist das neue Schmuckstück von Rébecca Dautremer („Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough“), die mit ihrem Scherenschnittband „PUNKT 12“ neben dem bekannten Jacominus ein weiteres Kaninchen vorstellt: Sweety. Die beiden sind am Hafen verabredet, und der Weg zu diesem Treffen wird in filigranen Einzelbildern nachgezeichnet. Jeder Schritt führt zu einer weiteren kleinen Annäherung, die Seite für Seite das Sichtfeld verändert, da stets eine neue Lage abgehoben und eine darunterliegende freigelegt wird. Vorsichtig – wie ein lauerndes, kleines Tier – muss man sich durch dieses feingliedrige Buch blättern, verweilen, darauf achtgeben, dass sich die kleinen Details nicht ineinander verhaken, abreißen, knicken. Selten war ein Buch ähnlich zart besaitet, ein Dioarama für alle Altersklassen, ein Lehrstück der Entschleunigung, als ob Adalbert Stifter unter die Illustratoren gegangen wäre. (Rébecca Dautremer: “PUNKT 12 – Jacominus Gainsborough”, aus dem Französischen von Andrea Spingler, Insel, 212 Seiten, 48 Euro, Lesealter: ab 6)