In den dunklen Tagen bringt die Raupe Nimmersatt und ein ganzer Tierpark Freude: vom kleinen Elefin über den Esel in Jörs Sundermeiers verbogenen Geschichte bis zur kleinen Fledermaus Wegda. Als Schutz dabei: Hüte, Hauben, Kopftücher.
Die Selbst-Musealisierung von „Die kleine Raupe Nimmersatt“-Schöpfer Eric Carle schreitet voran mit einem Kompendium, das ungewöhnliche Einblicke gibt in Figuren-, Strich- und Formgebung seiner berühmt gewordenen Illustrationen. Elefanten, Ziegen, Frösche und Füchse wuseln durch jene beinahe 200 Seiten, die „Eric Carles Welt der Tiere“ vorstellen – als Nachfolger des Sammelbands „Eric Carles großes Buch der Tiere“ von 2022. Aus dem privaten Archiv und aus über 50 verschiedenen Veröffentlichungen sind die Abbildungen dieses großformatigen Bilderbuchs kompiliert, angereichert mit ausgewählten Zitaten des Illustrators und knappen Einblicken in seinen legendär gewordenen Collagestil. „Mein Stachelschwein dürfte an die hundert Stacheln haben, die ich einzeln aufgeklebt habe. So etwas dauert, aber ich mache es gern.“ Das verrät Eric Carle auf einer der abwechslungsreich gestalteten Seiten, darunter vier Versionen dieses höchst ungewöhnlichen Nagetiers: im von ihm gewohnten Stil, daneben als rasche, monochrome Kritzelei, auch als farbiger Entwurf, darüber, es muss eine Fotografie sein: Carles’ schwarze Stachelschweinskulptur mit neonbunten, stilisierten Haaren, Fiberglasstäbchen möglicherweise. Eric Carle zeigt sich Blatt für Blatt als experimentierfreudiger, sorgsam gestaltender Illustrator: „Wer Kunst schafft sollte frei und bereit sein zu malen, was immer er will“, wird er zitiert auf einer anderen Doppelseite, umgeben von hingetupften Fischabbildungen, in der gewohnten Eric-Carle-Technik also, die er zu Beginn der 1950er Jahre an der Akademie der bildenden Künste in Stuttgart entwickelt hatte, bevor er mit 40 Dollar in der Tasche in sein Geburtsland, die USA, zurückkehrte.
„Als ich ein kleiner Junge war, nahm mein Vater mich oft mit auf Spaziergänge durch Wiesen und Wälder. Er hob einen Stein hoch oder zog ein Stückchen Rinde von einem Baum ab und zeigte mir die kleinen Lebewesen, die dort aufgeregt hin und her flitzten. Er erklärte mir die besondere Lebensweise des einen oder anderen Tierchens. Anschließend brachte er es vorsichtig wieder an seinen Platz zurück. Ich glaube, indem ich über die kleinen Geschöpfe schreibe, ehre ich auch meinen Vater. Und in gewisser Weise beschwöre ich diese glückliche Zeit wieder herauf.“ Diese Worte beschließen den Tier-Sammelband, der ein wildes Durcheinander ist, von der Nashorn-Skizze über den Linolschnitt zweier Mäuse, von abstrakten Hirschen über eine weit ausklappbare Katzen-Doppel-Doppelseite bis zur Bison-Studie. Es gibt wie mit der linken Hand gezeichnete Küken und kompliziert collagierte, tiefblaue Elefanten. Es gibt Arbeitsblätter, verstreut Veröffentlichtes, nie gesehene Trouvaillen, die eine neue Vorstellung vom Arbeitsprozess des Schöpfers vermitteln. Schon das Cover mit seinen untypischen Schwarzweiß-Schnitten deutet den Weg zu einem etwas anderen Eric Carle-Buch. Lediglich die klein dargestellte Raupe Nimmersatt wirkt vertraut, und weil dieses Vertraute nur sporadisch gezeigt wird, hat dieser Band wenig Gefälliges. Darin unterscheidet er sich auch vom Vorgänger und ist genau deshalb eine lohnenswerte Ergänzung: Für Fans eine echte Entdeckung, eine Zeichenschule des Meisters, ein Vorschlag auch für alle Illustrations-Adepten und Tier-Studierende. Noch die Kleinsten werden hier Entwürfe sehen, die sie kopieren können – und man möchte am liebsten diese Kinder-, aber auch eine Erwachsenenversion lesen, als Biographie, mit kunsthistorischen Einordnungen und einem weitergestellten Blick in das Leben eines Mannes, der in Deutschland sein Handwerk erlernte, aber erst in den USA perfektionierte, ein Mann, den man keinem Land, sondern nur einer Gemeinde zuordnen kann: der höchsteigenen. „Eric Carles Welt der Tiere“, aus dem Englischen von Leena Flegler, Gerstenberg, 192 Seiten, 30 Euro
Die Scham, im Christentum ursächlich verbunden mit dem biblischen Sündenfall, ist bekanntlich ein äußerst unangenehmes Gefühl, das schon Kinder unter die Haut kriechen kann. So ergeht es auch dem kleinen Elefin, der vor seiner Herde versucht, anständig zu tröten, sich den anderen Tieren mitzuteilen. Doch offensichtlich hat er vergessen, wie er seinen Rüssel benutzen soll, nur ein „Töööö“ statt eine „Töööröö“ verlässt seinen winzigen Körper. „Das hörte sich nicht richtig an. Die großen Elefanten waren entsetzt. Oh je, dachte Elefin, vielleicht ist meine Trompete kaputt? Oder Elefanten vergessen doch mal etwas. Ich weiß, was ich sagen will, aber ich erinnere mich nicht, wie es geht. Was soll ich nur tun?“ Gramvoll geht er auf Wanderung und fragt die Giraffen, das Krokodil, den majestätischen Löwen, der gelassen zur Ausdauer rät. „Also übte Elefin weiter. Er konzentrierte sich. Und er versuchte es immer wieder, bis er Knoten im Rüssel hat.“ Erst durch einen neuen, nachgerade verwunschenen Freund erscheint langsam die Lösung. Elisabeth Longridge, hierzulande erfolgreich mit ihren Vorgängern „Schattenfisch“ und „Ich bin etwas schüchtern“, zeigt erneut, wie Sprachlosigkeit überwunden werden kann – durch Ausdauer, ein gefasstes Herz und Kreativität, hier dargestellt in flächigen Panoramen, vor denen komplexe Geister in zweidimensional erscheinenden Körpern stecken, ein interessanter Gegensatz. „Elefin“ ist eine hinreißende Psychoedukation für Kinder ab 4 Jahre. Elisabeth Longridge: „Elefin“, aus dem Englischen von Anne Brauner, Verlag Freies Geistesleben, 40 Seiten, 16 Euro
Seit die Stiftung Lesen eine unglückliche Kampagne mit KI-Bildern verbreitet hat, werben Verlage offensiv für menschgemachte Illustrationen. Rotopol postete vor wenigen Tagen: „Wer eines unserer Bücher erwirbt kann sicher sein, das Werk individueller Künstler*innen in den Händen zu halten“. Auch die Geschichte von Verbrecher-Verlagsleiter Jörg Sundermeier ist ganz und gar seinem eigenen Kopf entsprungen, zudem händisch mit Tusche und Acryl illustriert von Katrin Funcke, die in zweieinhalbjähriger Arbeit dieses „verbogene“ Geschichte bebildert hat. Erzählt wird über zwei anthropomorphisierte, irritierenderweise blaufarbene Kröten, die von kuriosen Begegnungen berichten. Eine der Kröten hebt an: „Ich war ein Maulwurf. Ich buddelte im tiefen Sand. Ich rauchte Pfeife, wenn ich abends auf meinem Maulwurfshügel saß und der dunklen Welt beim Schlafen zuschaute.“ Doch dieser Maulwurf mit Namen Rüfffeldirk ist allein, begibt sich deshalb auf Wanderschaft, Freunde zu finden. Er trifft eine Feldmaus, die ebenfalls auf der Suche ist – nach einer Partnerschaft. Gemeinsam ziehen sie los wie die Bremer Stadtmusikanten. Sie treffen den Zitronenfalter Büzanz und die Eselin Satre, sie gehen stets ein Stück ihres Weges, sie werden einander verlieren, erst am Ende während eines Scheidungsfestes erneut aufeinandertreffen. „Das glaubt einem doch keiner!“ So verbogen ist diese quirlige Geschichte über Begegnungen, Gemeinsamkeit und Trennungen, über Sehnsüchte und das Leben als ewige Suche. Eine ebenso verbogene wie vergnügliche, ohne tiefere Moral oder zeigefingernde Belehrungen auskommende Heldenreise für Kinder ab 5 Jahre. Jörg Sundermeier (Text), Katrin Funcke: (Illustration): „Eine verbogene Geschichte“, bahoe books, 56 Seiten, 22 Euro
Das Lieblingsfledertier ist zurück und will unbedingt träumen. „In der Fledermaushöhle herrscht ein Gewusel und Gewimmel! Die Fledermäuse haben ausgeschlafen und machen sich nun bereit, in den Abend zu schwirren. Alle – bis auf eine. Die kleine Fledermaus Wegda erlebt lieber tagsüber Abenteuer, denn dann sieht die Welt viel bunter aus. Nachts will sie schlafen!“ Welche Eltern träumen nicht von einem derart vernünftigen und tageslichtaffinen Kleinkind? Wegda fehlt allerdings das Kuscheltier und eine kleine, Suche beginnt, die gespickt ist mit vielen Fragen an die hoffentlich ebenfalls müden Zuhörerinnen und Zuhörer. Ein Mitmachbuch, das die Augenlider beschwert und mit zunehmender Langsamkeit und sanftem Witz („’1 … 2 … 3 … 5 … nee … 4 … 5, 6, 8 … 9 …10’ brummelt es unter den Flügeln“) noch die quirligste Fledermaus einschlummern lässt: „Pscht, weck sie nicht auf – bestimmt träumt sie von neuen Abenteuern.“ Nanna Neßhöver (Text), Petra Eimer (Illustration): „Schlaf gut, kleine Fledermaus Wegda“, Carlsen, 13 Euro, ab 3 Jahre
Hüte, Hauben, Kopftücher, Helme, Kappen und Mützen bedecken die Köpfe dieses 2023 mit dem Hamburger Bilderbuchpreis ausgezeichneten Bandes. Er wurde nicht gezeichnet, sondern in Ölpastellkreide gekratzt. Karen Exner, 1995 in Ratzeburg geboren, stellt im Überhochformat Melone, Fes und Kufiya vor („Die Sonne glüht in der Wüste, Sand und Staub fliegen durch die Luft, Doch wer eine Kufiya ums Gesicht gewickelt trägt, ist vor all dem geschützt.“). – auch die Kippa, die daran erinnern soll, dass Gott stets über einem ist. Kippa, Hijab, Aluhüte sind nur drei Kopfbedeckungen, die in den vergangenen Jahren gesellschaftspolitische Bedeutung erlangt haben, doch wird dieses Kinderbuch keinesfalls ideologisch überfrachtet, sondern eher ein Staunen evoziert, darüber, wie reich und Traditionen behaftet Kopfbedeckungen sein können. „Die älteste bekannte Darstellung stammt aus der Altsteinzeit und wurde vor mehr als 21.000 Jahren angefertigt: ein aus Mammut-Elfenbein geschnitzter Kopf mit einer Kapuze.“ „Hüte und andere Kopfbedeckungen aus aller Welt“ ist ein erstaunliches Bilderbuch mit graphischem Seltenheitswert. Karen Exner: „Hüte und andere Kopfbedeckungen aus aller Welt“, Carlsen, 88 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre