Trotz der Kälte geht es kurz in den Sandkasten – aber auch mit einem verkleideten Schaf in den dunklen Wald, wo die bösen Wölfe hausen, in eine anonyme Großstadt und zum Ausgleich nach ganz weit oben, wo eine eigensinnige Wolke ihrem Wunsch nach geordneter Geometrie nachgeht.
Wie männliche Versionen der „Nana“-Figuren von Niki de Saint Phalle erscheinen die Männer in „Koma“. Die Graphic Novel basiert auf einem Theaterstück des jungen Shootingstars Mazlum Nergiz, und wurde jetzt von Leonie Ott illustriert. Erzählt wird die trostlose Geschichte eines jungen Schriftstellers, der zuerst seinen Bruder durch einen Motorradunfall verliert – und dann sich selbst. Eingetaucht ins Tränenmeer der Trauer wechselt er die Stadt, flüchtet in eine Anonymität und gibt sich aus dieser Anonymität heraus homosexuellen, die eigene Leere selbstverständlich nicht füllenden, sehr traurigen S/M- und Crusing-Abenteuern hin. Seinen daheim zurückgelassenen Freund verlässt er per Telefon. Der Andere ist fassungslos. Er wird sich nur noch einmal melden und erklären, „warum ich so grausam bin. Es sei mein innerster Antrieb, ihn leiden zu lassen. Weil mir bisher nur Grausamkeit widerfahren sei könne ich nur Grausamkeit weitergeben.“
Die massiven, derben Körper tragen viel zu kleine Köpfe, Zeichen des Primats einer verdrogt und geradezu tierisch erscheinenden Sexualität. Alptraumhaft wirken die Szenen, sie lösen sich immer wieder auf, als verdampfte alles im düsteren Nebel. Die „Koma“-Erlebnisse sind einsam, toxisch, unheimlich, als sei die Geschichte wie einer der hier beschriebenen Dark Rooms, in dem ein großer Käfig steht: „In diesem Käfig ist schon mal jemand gestorben. Hat sich ganz allein mit GHB und was nicht noch zugedröhnt. Ich dachte, er würde sich ausruhen. Andere waren genervt, weil sie dachten, er spielt unerreichbar. Am nächsten Tag haben sie ihn gefunden. Tot.“ Mazlum Nergiz (Text), Leonie Ott (Illustration): „Koma“, März, 202 Seiten, 28 Euro
Psychologisch feinsinnig erzählt der Kanadier Sid Sharp in seinem Debüt von Bellwidder Rückwelzer, einem Schaf, das bereits zu Beginn aussieht wie verkleidet – und sich schon bald danach tatsächlich verkleiden wird. Denn im Wald, wo die begehrten Brombeeren wachsen, streifen hungrige Wölfe umher. „Es gab viele Dinge, die Bellwidder am Wald mochte. Er pflückte gern Brombeeren und er roch gern an Blumen und er hörte gern den Vögeln zu, aber er dachte NICHT gern an Wölfe.“ So schneidert das Schaf aus Angst einen Wolfspelz, um selbst gefährlich auszusehen. Mit diesem Bild wird gezeigt, wie Unsicherheit zu aggressiven Inszenierungen führen kann. Anfänglich geht der Plan auf, Bellwidder wird von den anderen Wölfen als ebenbürtig angenommen, bis eine Verkettung unglücklicher Umstände den so sorgsam angelegten Wolfspelz beschädigt. „Oh nein. Ojemine. Die Nähte geplatzt … Von Zweigen zerrissen … Von Motten verzehrt …“ Vor Sonnenuntergang will Bellwidder heimgekehrt sein, sich wieder zurück- und den Wolfspelz ausziehen. Er muss erkennen, dass eine Verkleidung zwar den empfindsamen Körper, aber nicht wie erhofft die eigenen Ängsten kaschiert. Doch es kommt zu einer überraschenden Wendung. Sid Sharp erzählt in diesem Hybrid aus Bilderbuch und Graphic Novel mit eigenwilligem Strich und für Kinder überaus spannend von der schwierigen, gesellschaftlichen Positionierung des irritierten, nur vage in der Welt stehenden Selbst. Sid Sharp: „Der Wolfspelz“, aus dem Englischen von Alexandra Rak, 136 Seiten, NordSüd, 22 Euro, ab 6 Jahre
Immer noch gültig ist jene Klassifikation von Wolkenformen, die der englische Apotheker Luke Howard zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstellt hat (angelehnt an die Taxonomie der Lebewesen Carl von Linnés). Bereits Goethe hat Howards Beschreibungen übernommen, noch heute spricht man von Cirrus-, Stratus-, Cumulus- und Nimbuswolken. „Wolkentiere und Quadrat“ stellt jetzt eine sehr eigensinnige Wolke vor, deren größter Spaß in der Verwandlung besteht. „Unsere Wolke wollte vor allem eigene Formen erfinden, schließlich war wirklich jede erdenkliche Idee möglich. Dennoch gab es viele Wolken, die von dieser Freiheit kaum Gebrauch machten.“ Die hier vorgestellte Wolke verwandelt sich irgendwann in ein Quadrat und sorgt für allerlei Aufsehen. „Sie war wunderschön. War sie vielleicht künstlich? Ein Teil einer Kunstaktion? Oder vielleicht eine Nachricht von Außerirdischen?“ Die Illustrationen sind sowohl analog als auch digital entstanden. Anna Gusella hat mit Übermalungen, Décalcomanie und verschiedenen Strukturen gespielt. Die so frei entstandenen Bilder waren dann Grundlage für Assoziationen und Inspirationen der Textpassagen. Das heißt, erst waren die Illustrationen, dann kam die Geschichte. – Es gibt zahlreiche Bilderbücher, die mit Formen spielen; der Kunstanstifter-Verlag, wo auch diese Geschichte erscheint, hat vor einiger Zeit Linda Wolfgrubers „Der Garten der Formen“ veröffentlicht, von Mac Barnett und Jon Klassen gibt es die schöne Trilogie: „Dreieck“, „Quadrat“, „Kreis“. Ähnlich poetisch ist dieses Wolkenbuch, das den eigentlich längst entmythisierten Himmel als großen Phantasieraum vorstellt. Anna Gusella: „Wolkentiere und Quadrat“, Kunstanstifter, 84 Seiten, 25 Euro
Bald beginnt die Adventszeit. Die Sandkästen sind verwaist. Vier, fünf kalte Monate werden vergehen, bis die Spielplätze wieder geöffnet sind. Bis dahin erinnert dieses kleine Bilderbuch an die großen Maschinen, die im Kleinen nachgebaut den Sommer hinweg die buddelnde Phantasie anregen (bemerkenswert, wie die Automobilindustrie es geschafft hat, ihre Erzeugnisse – vom Plastikbagger bis zum Bobby Car – in die heimischen Kinderzimmer zu bringen). Radlader, Presslufthammer und der Meißel von Bildhauerin Frau Schaf eröffnen diese Schau. Vorderkipper, Teleskopkran und Harvester folgen: „Mit dem Harvester kann man einen Baum in einer Minute fällen, entasten und kleinschneiden“ – das ist geradezu unheimlich, insbesondere aufgrund des Zusatzes: „Vielleicht stammt das Papier für dieses Buch von genau diesem Holz, Möglich wär’s.“ So kann das Buch auch Anlass für eine kritische Auseinandersetzung sein, und es soll kein Makel sein, dass schon die kleinen Kinder mithilfe der hier vorgestellten Geräte die Wirklichkeit ein wenig deutlicher vor Augen haben. Ole Könnecke: „Buddeln, baggern, bauen“, Hanser, 32 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahre