Das kongeniale Bilderbuch-Duo Michael Stavarič / Michèle Ganser taucht mal wieder durchs Meer und sucht in der neuen Ausgabe ihrer Tiefseeerkundungen die interessantesten Hai-Exemplare, ein akkurat angelegter Garten verwildert, die Entmonsterung der Kinderzimmer schreitet voran und dazwischen verniedlicht ein Dumbo-Oktopus die Bilderbuchreihe des Monats Mai.
Der Haifisch, der hat Zähne, das wissen spätestens seit Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ selbst jene, die sich nie mit den Meeresräubern beschäftigt haben. Stechmücken sind allerdings tödlicher als die vorderhand gefährlicher wirkenden Knorpelfische, denn auf durchschnittlich ein Dutzend Hai-Opfer kommen jährlich 725.000 Stechmücken-Tote. Gefährlichster Erdbewohner bleiben wir, die Menschen, woran Michael Stavarič und Michèle Ganser in ihrer neuen Tauchexpedition „Faszination Haie“ erinnern: „Habt bitte einfach keine Angst mehr vor Haien, diese ist absolut unbegründet. Und versprecht mir vor allem eines: Lasst euch im Leben generell nicht von Ängsten leiten, diese sind immer schlechte Ratgeber.“ Ein Ratgeberbuch der besonderen Art ist diese „Faszination Haie“-Veröffentlichung, die Kindern mehr zeigen will als einen spezifischen Ausschnitt der Meereswelt. Wie die beiden vorherigen, von Michèle Ganser illustrierten Quallen- und Krakenbücher, ist auch dieses vor tiefseeschwarzem Meeresgrund gestaltet, mit detailreichen Zeichnungen der Unterwasserwelt, die Bullen-, Hammer- und Tigerhaie zeigen. Michael Stavaričs Text, im Plauderton mit seinen Leserinnen und Lesern, geht ebenfalls in die Tiefe und stellt nicht nur die titelgebenden Tiere vor. Er nimmt die Haie als Anlass, um nebenbei über Klimawandel, KI und andere Intelligenzformen zu sprechen, über fliegende Fische, Bärtierchen und „Fish & Chips“.
„Stellt euch einfach irgendein anderes Tier vor, das man eigentlich nie essen würde, eine Krähe zum Beispiel, und die würde dann als ‚Schwarzwaldhühnchen’, ‚Mondwachtel’ oder ‚Nachtfasan’ verkauft werden. Ich finde, das ist eine Riesenfrechheit, und wir alle sollten viel mehr hinterfragen, was wir essen, um dem Dornhai zu helfen. Wer irgendwo ‚Fish & Chips’ bestellt, isst recht wahrscheinlich den kleinen Dornhai. So viel zum englischen Nationalgericht.“ Es gibt viele Bilderbücher über Haie, von „Michel, der kleine Haiforscher“ des „Shark Projects“, einer ehrenvollen Initiative zum Schutz und zur Erforschung von Haien, bis zu „Hai Ahoi!“ von Owen Davey – ein Sachbuch auf der einen, eine lustige Geschichte auf der anderen Seite. – Das „Faszination Haie“-Buch aus dem Leykam-Verlag sticht heraus, weil Kinder hier positiv gefordert, weil all ihre Sinne und viele ihrer Interessen thematisiert werden – als Gegenbewegung zum gesellschaftlichen Vereinfachungstrend. Dieses Buch baut Komplexität auf – auch in sprachlicher Hinsicht, wenn en passant Fremdwörter fallen und erklärt werden: „Mein liebster ‚Extremophiler’ (übrigens ein Wort aus dem Griechischen, welches ‚der Freund extremer Bedingungen’ bedeutet) ist eindeutig das ‚Bärtierchen.“ Von besonders extremophiler Natur ist dieses aufwändig gestaltete, auch literarisch geglückte Bilderbuch, das zudem eine Spielesammlung ist: Es gibt Rätsel, Suchbilder, zahlreiche Fragen, Einladungen zum Innehalten, Nachdenken, Knobeln. Der kreativ-liebevolle Text zeitigt das sprachliche Können Michael Stavaričs, der bereits für seine belletristischen Bücher zahlreiche Preise erhalten hat. Mit den gestochen scharfen, detailreichen Illustrationen Michèle Gansers wird „Faszination Haie“ zum Gesamtkunstwerk, das auch die Faszination Sprache und die Faszination Illustration Kindern ab sechs Jahren näherbringt. Michael Stavarič (Text), Michèle Ganser (Illustration): „Faszination Haie. Wächter der Meere“, Leykam, 144 Seiten, 26 Euro, ab 6 Jahre
Nach „Geniale Nasen“, ersinnt das Bilderbuchduo Lena Anlauf / Vitali Konstantonov eine weitere „kuriose Tiersammlung“, dieses Mal geht es um „Geniale Ohren“. Die Nachfolger „Geniale Augen“ und „Geniale Münder“ kann man bereits antizipieren, nachdem Fennek, Löffelhund, Beutelteufel und Dumbo-Oktopus in dieser Ausgabe vorgestellt worden sind (oder es werden „Geniale Hälse“ angeschlossen, damit das HNO-Paket komplett geschnürt ist). Sortiert ist der Reigen in den Kategorien lang-, groß-, pinsel, rot-, falsch- und koboldohrig, außerdem die Untergattung „verstecktohrig“ mit nur einem Vertreter, dem Honigdachs. Löffelhunde lauschen aufmerksam aus das nagende Geräusch der Käferlarven, die sich nach dem Schlüpfen einen Weg aus dem Kothaufen herausfressen. Ohrenigel kommunizieren über sehr hohe Laute, die Ultraschall enthalten. Der flüchtende Eselhase aber verwirrt Fressfeinde durch einen permanenten Wechsel seiner Ohrhaltung. Nach zahlreichen Kindchenschema-Abbildungen werden die Haustier-Bettelwünsche der jungen Leserinnen und Leser unweigerlich folgen. Doch Pinselohräffchen, Großflugbeutler, Waldohreulen und der Dumbo-Oktopus sind unverkäuflich. Wie wäre es stattdessen mit einem Elefantenohrchamöleon, auch wenn diese Tiere beinahe taub sind und sich meist auf ihre Augen verlassen? Lena Anlauf (Text) und Vitali Konstantinov (Illustration): „Geniale Ohren“, NordSüd, 64 Seiten, 25 Euro, ab 5 Jahre
Eine Ent-Monsterung der Kinderzimmer durch niedliche Konfrontationstherapie hat die Angstpädagogik früherer Jahrhunderte (Struwwelpeter, Hänsel und Gretel) abgelöst. Nach „Monsta“ von Dita Zipfel und Mateo Dineen, “Bist du ein Monster?“ von Guilherme Karsten oder auch „101 Monster und alles, was du über sie wissen musst!“ von Ruby van der Bogen und Alexandra Helm veröffentlichen Vincent Boudgourd und Marie-Hélène Versini aus Frankreich ihr großformatiges Bilderbuch “Monster trinken keine Erdbeermilch”. Mit viel Weißfläche und im Duktus von Kinderzeichnungen zeigen sie nachgerade wirr erscheinende Kreaturen, die als Mängelwesen dargestellt werden (Arnold Gehlen, übernehmen Sie!). So erfahren wir, dass Monster nie zum Frisör gehen und deshalb wirres Haar haben, dass sie Zahnärzte meiden und stattdessen ihre Beißer an Hochhäusern feilen müssen, dass es ihnen schlechterdings unmöglich ist, Klavier zu spielen mit ihren großen, flauschigen Pranken. Monster können weder rutschen (zu groß), noch ihre Nägel lackieren (einige Monster sind zu dürr), sie können sich nicht einmal im Dunklen fürchten (weil sie oft selbst die Dunkelheit sind). Monster erscheinen hier als liebenswerte Kreaturen, die sich schwertun in der menschlichen Zivilisation – und weshalb das so ist wird auf der letzten Seite charmant begründet: „weil es Monster gar nicht gibt“. Vincent Boudgourd (Text), Marie-Hélène Versini (Illustration): “Monster trinken keine Erdbeermilch”, aus dem Französischen von Felicia Bonhoff, Insel, 36 Seiten, 16,95 Euro, ab 3 Jahre
Auf untergründige Weise – es geht um Überreglementierung – ist „Wilde Blätter“ verwandt mit Torben Kuhlmanns „Die graue Stadt“. Als geometrisch akkurat werden Haus und Garten der Familie Picobello vorgestellt: „Alles wurde strengstens kontrolliert: die Höhe der Pflanzen, der Abstand zwischen den Stängeln, die Neigung der Zweige, die Breite der Blätter, die Dichte des Rasens … Nicht zu vergessen die passende Farbkombination der Gewächse.“ Irgendwann kündigt der Gärtner, die Natur sprießt fortan grenzenlos. „Der Postbote hatte nun größere Schwierigkeiten seine Expressbriefe zuzustellen (…) die Pflanzenwelt mit ihrer überschäumenden Kraft brach über sie herein.“ Sie wuchert während der Sommerferien in den Wohnbereich – eine vermeintliche Katastrophe der Überfülle, wie beim süßen Brei der Brüder Grimm. Doch Familie Picobello entdeckt das Abenteuer „Und dann taten sie, was sie lange nicht getan hatten; Sie ließen sich von ihrer Umgebung verzaubern!“ – Irgendwann sind die Ferien vorbei, der Alltag kehrt zurück und mit diesem Alltag die Notwendigkeit, den kapitalistischen Anforderungen Rechnung zu tragen. „Es wurde also eine sehr schmerzhafte Entscheidung getroffen: Sie riefen die Gartenbaufirma herbei. Die rückte mit schwerem Gerät an und entfernte alle Pflanzen und damit auch all die wunderbaren Momente, die Familie Picobello in ihrer grünen Oase erlebt hatte.“ Dennoch gibt es ein Happy End… Marie Dorléans: „Wilder Blätter“, aus dem Französischen von Andreas Illmann, Schaltzeit, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre