Wieviele Striche braucht es, um einen Elefanten zu zeichnen? Ist Differenz etwas Gutes oder Schlechtes? Wie sehen Gebetsfahnen aus – und wann hat auch der Vorlesende seine Freude?
Das Kindchenschema verfängt in Bilderbüchern nahezu immer; ob bei „Borst vom Forst“ von Yvonne Hergane (hier), beim kleinen Kaktus aus „Komm kuscheln“ (hier) oder in „Monsta“ von Dita Zipfel (hier) – nun bei „Ich will Erster sein“ vom Richard Byrne aus Brighton. Große Augen hatten bereits einige seiner anderen Heldinnen, wie der Waschbär in „Wer hat den Mond gestohlen“ aus dem Jahr 2015 oder „Der ganz, ganz große Dino“ von 2013. „Ich will Erster sein“ ist ein Satz, den neoliberale FDP-Wähler jederzeit unterschreiben würden. Gleichzeitig mögen auch Kinder den Wettbewerb. Er ist in ihnen angelegt. Man kann es beobachten, wenn Schalter und Knöpfe gedrückt werden müssen im Bus oder an der Ampel. Sind dieses „Erster-Sein“ und „Vorgehen-Wollen“ mit Abnabelungsprozessen verwoben?
In der Geschichte von Richard Byrne gehen fünf Elefanten, deren Name wie ihre Tierart mit „E“ anfangen, zum Wasserloch. Sie sind gekleidet in bunten Badehosen, mit Schwimmreif, Schnorchelausrüstung, Sandspielzeug. Es sind Tiere, die wie Menschen leben und handeln. Der oder die Kleinste heißt Eli und fragt zu Beginn: „Kann ich diesmal Erster sein?“ – und bekommt zur Antwort: „Nein, Eli, der Kleinste ist immer Letzter!“ Anstatt sich frustriert zu fügen entwickelt Eli eine List, bei der er, und das ist der Clou dieses Buchs, seine oder ihre LeserInnen Doppelseite für Doppelseite mit ins Boot holt, zu Komplizen macht, um vorzurücken, Position für Position. Das ist charmant und durchbricht die passive Zuhör-Situation auf eine Weise, die kleine Kinder begeistern wird. / Richard Byrne: „Ich will Erster sein“, aus dem Englischen von Gesine Schröder, Magellan-Verlag, 40 Seiten, 14 Euro, ab 3 Jahre
Wir treffen auf Elefant Nummer zwei, dieses Mal auf den von Susan Hood und Jay Fleck. Der Illustrator benötigt noch weniger Striche als Richard Byrne – und er widmet sich einem weiteren Phänomen, das Kindern hilft, die Welt zu ordnen: mithilfe von Gegensätzen, was nicht nur den Systemtheoretiker begeistert. Man erinnert sich an jene philosophischen Ernie & Bert-Folgen aus der Sesamstraße, in denen beispielsweise der Unterschied zwischen „hier“ und „da“ (hier) thematisiert wird. In „Schau genau – Wenn Gegensätze dir den Kopf verdrehen“ erzählt der Elefant einem Jungen, was Differenzen sind; links und rechts, wachen und schlafen oder die erste Differenz der Bibel (ohne sie zu nennen), nämlich jene zwischen Tag und Nacht. Gleichzeitig wird dieses Differenzieren problematisiert, „denn was ist schon groß ohne klein nebendran? Woran misst man kurz, wenn nicht an lang? Was hoch ist, wird klar neben tief – nicht wahr? Doch je nachdem, von wo aus du schaust, sieht alles gleich wieder ganz anders aus.“ Es war Niklas Luhmann, der anmerkte, dass am Anfang der Beobachtung die Differenz und am Ende keine Einheit, sondern eine bessere Differenz stehen sollte. So ist dieses Bilderbuch hintersinniger als vermutet. Es kann gut neben „Ich will Erster sein“ stehen, als Ergänzung, als ein kleines Kunstwerk, das nicht nur Kinder, sondern auch die Eltern zum Weiter-, Nach- und Neudenken inspiriert. / Susan Hood, Jay Fleck: „Schau genau! Wenn Gegensätze dir den Kopf verdrehen“, aus dem Englischen von Hanna Schmitz, Coppenrath, 32 Seiten, 14 Euro, ab 4 Jahre
„Es gibt einen Ort, an dem ein Berg buchstäblich wächst. Zusammen mit neun benachbarten Bergen zählt er zu den 14 höchsten Gipfeln der Welt. Alle sind über 8000 Meter hoch. Die feuchten Meereswinde steigen im Frühjahr an den Felsmassiven auf und gehen als Regen nieder. Dies ist ein Ort der Entdeckung, der Erfindung und der Fantasie. Das Hochgebirge des Himalaya ist eine Welt der Wunder. Besonders faszinierend ist die Geschichte des höchsten dieser Berge – des Mount Everest.“ Mit poetischen Worten beginnt das Buch von Sangma Francis und Lisk Feng, das im Feuilleton euphorisch (hier) bis gemischt (hier) aufgenommen wurde. Die Bilder sind schlicht und kommen auf dem grobporig-matten Papier zur angemessenen Geltung. Es gibt viel zu Schauen, obwohl keine Illustration Wimmelbildcharakter hat, sondern stets ein im Text erläutertes Phänomen aufgreift. Das wirkt aufgeräumt und kindgerecht, doch es sind Begriff wie Große Trigometrische Vermessung. Reserpin oder Aufstiegslizenzen, die stutzig machen. Was mit dem oben zitierten – und hier passt das Wort – Cliffhanger beginnt, wird zur weit ausholenden, teilweise Betrachtung über Vermessungstechnik, Habitate, das Königreich Shambhala: „Jedoch haben in Gier und Glückssuche in Shambhala keinen Platz. Nur wer reinen Herzens ist, erlangt Zugang.“
Es kommen Abschnitte wie dieser vor: „Buddhisten beten keine Gottheit an, sondern folgen den Lehren des Weisen Buddha, der den Menschen in einer Welt des Leids einen Weg zum inneren Frieden aufzeigt. Buddhisten meditieren, um einen klaren Geist und einen Zustand der Erleuchtung zu erlangen.“ Was eine Gottheit ist, wer als weise gilt, wie man meditiert, was man verstehen kann unter einer Welt des Leids, wie das Konzept der Erleuchtung funktioniert, wird nicht erklärt. „Everest“ ist ein Buch für Kinder, die gefordert werden wollen, die das Gedankenklettern brauchen – und eines für Erwachsene, deren Geographie-, Biologie- und Geschichtsunterricht hier aufgefrischt werden. „Everest“ ist eine Entdeckungsreise, in der Vorlesende nicht als Sherpas der Zuhörenden auftreten, sondern mit ihnen gemeinsam ins Unbekannte aufstoßen. / Sangma Francis, Lisk Feng: „Everest“, aus dem Englischen von Harald Stadler, Nord-Süd-Verlag, 80 Seiten, 20 Euro, ab 7 Jahre
Etwas Überzeitlich-Legendenhaftes liegt in dieser Parabel, die ebenso kurz wie kunstvoll erzählt, wie eine Kleinigkeit zum Krieg (und von dort aus zum Frieden) führen kann. Im Bilderbuch gilt das gleiche Diktum wie in guten Romanen: „Show, don’t tell!“ Es ist ein Satz, der es zum Wikipedia-Eintrag gebracht hat (hier). Illustrator Aljosch Blau zeigt zunächst eine weißflächige Doppelseite. Auf der ist diese lässliche Alltagssituation dargestellt: Ein blaues Eis tropft auf einen roten Hund. Auf diesem ersten Bild sind die Passanten lediglich skizziert, ohne Kolorierung. Eine Seite weiter stehen sich zwei Parteien gegenüber; die eine mit blauer, die andere mit roter Fahne. Es ist bekannt, dass manchmal eine Differenz in „Wir“ und „die Anderen“ ausreicht, um Zerstörung den Weg zu ebnen. Wie absurd beispielsweise die künstliche und falsche Unterscheidung zwischen Juden und Deutschen ist, wird in dieser – fälschlicherweise Kurt Tucholsky zugeschriebenen (hier) Parabel gezeigt, die in Erich Maria Remarques Roman „Der schwarze Obelisk“ von 1954 auf diese Weise vorkommt:
„Da sehen sie es“, sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld. „Dadurch haben wir den Krieg verloren: Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.“ – „Und die Radfahrer.“ ergänzt Riesenfeld. – „Wieso die Radfahrer?“ fragt Heinrich erstaunt. „Wieso die Juden?“ fragt Riesenfeld zurück.
Geschossen wird bei der Schlacht von Karlawatsch nicht mit Kanonen und Knarren, sondern mit Hüten, Jacken und Köpfen. Dennoch wirkt die Geschichte drohend, dunkel, möglicherweise zu brutal für Erstklässler. Die Veröffentlichung von Atlantis, einem Imprint der schweizer Orell Füssli Holding, ist museumsreif; ob sie auch kindgerecht, dem eigenen Kind gemäß ist, muss jeder selbst entscheiden. Die Geschichte ist smart – und obwohl ihre Bilder begeistern, funktioniert sie als reiner Text. Dieser Minimalismus in Wort und Illustration beeindruckt. / Heinz Janisch, Aljosch Blau: „Die Schlacht von Karlawatsch“, Atlantis, 32 Seiten, 19,95 Euro, ab 5 Jahre