Die schönsten Bilderbücher im März

Oft stimmt die Überschrift dieser Reihe, denn es werden tatsächlich die schönsten Bilderbücher des Monats vorgestellt – als Folge meiner Juryarbeit für „Die besten 7 Bücher für junge Leser“ des Dlf (hier und hier). In diesem Monat ist jedoch ebenso Raum für die Erinnerung an den 80. Jahrestag des Weltkriegsendes, entlang einer beeindruckenden Graphic Novel über Klaus Barbie, den Schlächter von Lyon. Außerdem: Neues von War and Peas, ein sehr schön gestaltetes Umweltbilderbuch, Wissenswertes über das unglückliche Leben der Regenwürmer und mit Sailor und Pekka, die etwas in der Stadt erledigen.

Achtzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Während die Erinnerungskultur erodiert, erscheinen vereinzelt Bücher, denen ein spätes Wachrütteln gelingt – wie Frédéric Brrémauds und Jean-Claude Bauers historische Graphic Novel über Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon“, jenen 1913 in Bad Godesberg geborenen Gestapo-Chef, der für seine Folterverhöre berüchtigt war, der nach dem Krieg in Bolivien untertauchen und erst 1987 verantwortlich gemacht werden konnte für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit (darunter die Deportation 44 jüdischer Waisenkinder). Der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen sezierte in „Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit“ die Unterwerfung Klaus Barbies unter dem, was Gruen „ein falsches Selbst“ nannte. Überliefert ist diese Aussage über ein Verhör Jean Moulins, den Leiter der französischen Résistance: „Als ich Jean Moulin vernahm, fühlte ich, daß er ich selber war.“ Daraufhin folterte Barbie seinen Gefangenen umso brutaler. Denn: Nichts hassen wir so sehr wie das, was wir in uns selbst vernichten wollen.

Frédéric Brrémaud und Jean-Claude Bauer finden einen neuen, auch für jüngere Leser erfahrbaren Zugang zur Täter-Biographie. Sie steigen bei einem der vielen Versuche ein, den Verbrecher in Bolivien zu erführen (wie es zuvor die Israelis 1960 bei Adolf Eichmann gemacht haben). Von dieser Spionagegeschichte ausgehend springen die Autoren zurück in Barbies Kindheit, sie beleuchten seinen Aufstieg im nationalsozialistischen System, werden bildhaft in den französischen Jahren – aber sie geben auch zahlreichen Zeugen Raum, die 1987 in Lyon ausgesagt haben. Diese Zeugen haben das letzte Wort, sie triumphieren in einer schonungslosen Graphic Novel, die näher wirkt als alte Schwarzweiß-Dokumentationen, die Geschichte eines Menschen erzählend, der alles Menschliche um, aber auch in sich selbst ermordet hat. Frédéric Brrémaud, Jean-Claude Bauer: „Klaus Barbie. Der Schlächter von Lyon“, mit einem umfangreichen Dossier und mit einem Vorwort von Serge und Beate Klarsfeld, aus dem Französischen von Leo Gürtler, bahoe, 144 Seiten, 26 Euro

„Alles lässt sich ändern“ – dieser (unfreiwillig?) mehrdeutige FDP-Slogan bleibt vom Bundestagswahlkampf, diese Mischung aus prometheischem Fortschrittsglauben und intellektueller Binse. Das Veränderliche Da-Sein und das unveränderliche Sein werden durch Aaron Beckers komplett ohne Worte auskommendem Anthropozän-Bilderbuch „Der Baum und der Fluss“ erfahrbar. Der US-amerikanische Autor und Illustrator hat bereits einige Preise gewonnen (Caldecott Honour, Kröte des Monats) – zudem war er tätig für Kinderfilme wie „Cars“, „Monster House“ und „Die Legende von Beowulf“. Das neue Buch changiert zwischen Sachgeschichte, Steampunk-Märchen und alttestamentarischer Legende, eine Landschaft im Wandel zeigend, zunächst nur einen Baum und eine Flussbiege. Menschen siedeln sich an, Seite für Seite entwickelt sich Zivilisation: eine Stadtmauer entsteht, mechanische, teils futuristisch aussehende Gerätschaften tauchen auf, bevor die Szenerie nach einer namenlosen Katastrophe verödet, wie abgebrannt und bombardiert brachliegt.  Aber die Natur wurzelt unbeirrt, ein neuer Baum wächst heran, und angedeutet wird, dass auch die zivilisatorische Geschichte einen weiteren Anfang findet. Dieses Bilderbuch hat ein ehrliches, wertneutrales Interesse an dem, was sich unweigerlich ändert (die Landschaft, der einzelne Mensch) aber auch an jenem unveränderlichen Prinzip, dem Willen zum Leben (der Natur), das uns durchaus ein Trost sein kann. Die keinesfalls kindlichen, fast dokumentarischen Zeichnungen, die angenehme Gesichtslosigkeit, an Picassos „Don Quixote“-Skizzen erinnernden Figurenzeichnungen, dieses unaufgeregt Zurückgenommene der Darstellung macht diese Veröffentlichung uneingeschränkt empfehlenswert. Aaron Becker: „Der Baum und der Fluss“, Gerstenberg, 32 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahre

Wenn die Erde in Brand steht, der Klimawandel eh unausweichlich ist. kann man dennoch über den eigenen Untergang lachen – wie Elizabeth Pich und Jonathan Kunz seit 2011 mit ihren erfolgreichen Web-Comic-Strips „War and Peas“. Die einstigen Kommilitonen der Hochschule der Bildenden Künste Saar stellen in ihrem neuen Buch von Instagram bekannte, aber auch vollkommen neue, sehr böse Bilderreihen vor. Das ist schwarzer Humor mit: einem pubertierenden Eisberg, romantischen Dinosauriern, einer sexsüchtigen Kinky-Blume, desillusionierten Bäumen und einer aggressiven Stadttaube – mal wieder zeigend, dass vermeintlich „politisch korrekter“, woke inspirierter Humor mit britischem Sarkasmus und Splatter-Scherzen kombiniert werden kann. War and Peas: „Liebe Erde“, Edition Moderne, 112 Seiten, 22 Euro

Oft haben sich Christenmenschen als „Erdwürmer“ gegenüber ihrem Gott erniedrigt. Das ist bekannt. Unbekannt ist hingegen, dass der gemeine Erd- oder Regenwurm zwar vor Herausforderungen steht, sich jedoch kommod einrichtet in seiner Existenz. Die italienische Illustratorin Noemi Vola berichtet vom Leben dieser putzigen Tierchen: „Zu Beginn, wenn der Wurm sehr jung ist, teilen sich die beiden Hälften, die einander sehr nahe sind, alles: das Zuhause, das Frühstück, den Geburtstag und alle anderen Feiertage, Sonntage im Stadion und Ausflüge ins Museum.“ Leichhin könnten sie als Individuen durchs Leben kriechen, doch hat ihre eigenwillige Konstruktion Vorteile – bei Klassenarbeiten: „Der Schwanz gibt dem Kopf des Regenwurms Tipps, wenn die Fragen einfach zu schwierig sind.“ Ein vergnügliches Leben, das viele (auch philosophische) Fragen stellt, unter der Grasnarbe befürchtend: „Und wenn die Erde abstürzt“, oder: „Falls ich ein Ganzes bin, wer bin ich dann?“ Noemi Volas Bestiarium ist selbst doppelt, auf einer jungen, unschuldigen Ebene lesbar und auf einer erwachseneren, teilweise anrüchigen – wie die unnachahmliche Doppelseite über die Läge der Tiere: „Der Regenwurm kann kurz oder sehr kurz, lang oder sehr lang sein. Regenwürmer gibt es in jeder Schattierung von Rosa, zum Beispiel Erdbeerrosa, Geranienrosa, Pfirsichrosa, Lachsrosa, Schweinchenrosa, Kaugummirosa, Altrosa, Sorbetrosa, Wassermelonenrosa und so weiter und so fort.“ Selbstverständlich sind die unterschiedlich langen Tiere – am Maßband gestreckt – auf dieser Doppelseite abgebildet. Allein eben diese Illustration lohnt den Kauf des Buchs, das höheren Blödsinn mit niedrigem Blödsinn verbindet (aber auf keinen Fall lehrreich sein will). Noemi Vola: „Über das unglückliche Leben der Regenwürmer: Ein relativ kurzes naturkundliches Traktat“, aus dem Italienischen von Alexandra Titze-Grabec, Kunstmann, 264 Seiten, 24 Euro, ab 3 Jahre

Der Schwede Jockum Nordström ist in seiner Heimat bekannt aufgrund seiner Kinderbuchreihe um Seemann Sailor und Hund Pekka. Weltweit ebenso geachtet ist Nordström für seine Gemälde, die im MoMa hängen, im Moderna Museet / Magasin 3 in Stockholm, und in Göteborgs konstmuseum. Er wird vertreten von der New Yorker Galerie David Zwirner (wie Wolfgang Tillmans, Richard Serra und Neo Rauch). Jetzt ist sein erstes Kinderbuch von 1993 in der deutschen Übersetzung des großen Hinrich Schmidt-Henkel erschienen: „Sailor und Pekka erledigen was in der Stadt“, mit Bildern, die im Nachwort vom deutschen Comiczeichner ATAK treffend beschrieben werden: „Es schien, als ob ein Zwölfjähriger diese Bilder gezeichnet hätte. Doch auf einigen Seiten wirkten die Abbildungen wie die eines Architekturstudenten: Viel zu gekonnt für einen kleinen Jungen. Andere Buchseiten mit Scherenschnitten schienen wiederum von eine Jungen im Vorschulalter zu stammen. Das Buch war die Welt eines Kindes, das wie nebenbei eine Autozeichnung hinwarf, an der wirklich, aber auch wirklich jede Perspektive stimmte.“ Sie erzählen eine harmlose, zeichnerisch variantenreiche Geschichte um einen Ausflug mit Hindernissen. Es tauchen auf: ein rauchender Biber (wie ohnehin sehr viel in diesem über 30 Jahre alten Buch geraucht wird), ein Häschen im 50er-Jahre-Rock, ein Trompete spielender Affe (ohne Schellenkostüm). Hier wird das Absurde mit dem Alltäglichen, das Kindliche mit dem Erwachsenen, Fotorealismus mit Bauplanzeichnungen kombiniert: als Geschichte des Staunenswerten, als ein Bilder-, ein Kinder-, ein großes Kunstbuch. Jockum Nordström: „Sailor und Pekka erledigen was in der Stadt“, aus dem Schwedischen von Hinrich Schmidt-Henkel, mit einem Nachwort von Atak/Georg Barber, Péridot, 44 Seiten, 16 Euro ab 4 Jahre

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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