Eine schockierende Flüchtlingserfahrung, ein würfelförmiger Tiger, das gute Bookstart-Programm, eine Fahrradtour und verrückt-spinnende Insekten kommen in den schönsten Bilderbüchern des Monats Juni zusammen.
Diese Fahrradtour beginnt überraschend: mit einem Vulkanausbruch. Im Jahr 1815 spuckt der Tambora in Indonesien riesige Mengen Gas und Asche – im darauffolgenden Jahr schneit es sommers in Europa, Ernten fallen katastrophal aus. Zur gleichen Zeit wüten die Napoleonischen Kriege, in denen nicht nur Menschen, sondern auch tausende Pferde sterben. Eine Hochkrisenepoche. „Bahnbrechende Erfindungen entstehen oft, wenn die Zeit reif für sie ist. Dann verändert sich die Vorstellungskraft der Menschen und die Art, wie sie die Welt und sich selbst verstehen. (…) Damals lebte in Deutschland ein Forstbeamter namens Karl Drais. Er war Erfinder und verwendete seine Fantasie, um zu ergründen, wie man die Kommunikation unter Menschen erleichtern könnte, sei es durch den Transport von Gedanken oder der von Menschen.“ Die berühmteste Erfindung dieses Forstbeamten ist eine Maschine, die man sich wie ein großes Laufrad vorstellen kann. Das neue Gerät ist doppelt so schnell wie ein Fußgänger. Es kann die verwundeten oder getöteten Pferde nicht ersetzen. Doch es weist in die Zukunft alternativer Fortbewegungsmittel. Die Verkehrswende, das zeigt das „Fahr Rad“-Buch von Ondřej Buddeus und Illustrator Jindřich Janíček, brauchte eine Weile. Und sie ist äußerst komplex und wird durchmessen mit Tandems, E-Bikes und Lastenrädern, mit Gravelbikes, Rikschas und dem inzwischen allgegenwärtigen Klapprad, das im öffentlichen Personenverkehr mitgenommen werden kann. Bereits 1896 erklärte das Reichsversicherungsamt zwar, das Fahrrad sei nicht mehr als Gegenstand des Sports, sondern als Verkehrsmittel anzusehen. Nach dem ökologisch fatalen Jahrhundert eben nicht des Fahrrads, sondern des Automobils, wird der Drahtesel allerdings erst jetzt aktiv in die Planung einst gestresster Städte einbezogen.
„Eine gestresste Stadt ist leicht zu erkennen. Hier sind sich alle im Weg: die Autofahrer einander, Fußgänger und Radfahrer den Autofahrern. (…) Aus der Perspektive des Radfahrens ist die Stadt dann am wenigsten gestresst, wenn sich auch Eltern mit Kindern trauen zu fahren. (…) Eine gut durchdachte Stadt bietet ein ganzes Netz an Radwegen, durch die Fahrräder, Autos und Fußgängerinnen voneinander getrennt sind.“ – Wenn man mit seinem Fahrrad 700 Kilometer gefahren ist, sind die ökologischen Schulden aus dem Prozess seiner Herstellung übrigens beglichen, wie es im „Fahr Rad“-Buch heißt, das reich bebildert durch die Geschichte des Drahtesels und seine Werkstätten führt. Detailliert wir dazu das Gleichgewichtsorgan erklärt, dann wieder geht es um signifikante Geschlechterunterschiede, aufgrund derer verschiedentlich geformte Sättel erfunden wurden. Das Buch kommt mit einer Modenschau, mit Ausflugstipps und den besten Wett- und Spaßrennen, wie die Weltmeisterschaften im „Mountainbike Schnorcheln“ – und es stellt, und hier wird es richtig ernst, sogenannte „Ghost Bikes“ vor:
„Weiß besprühte Fahrräder, die an Geländer oder Straßenschilder angekettet sind. Es gibt sie auf der ganzen Welt: in New York, Prag und sogar Singapur. Sie dienen dem Gedenken an Radfahrerinnen und Radfahrer, die bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug ihr Leben verloren haben. Geisterräder.“ „Fahr Rad“ ist ein zeitgemäßes Buch, dessen akkurate, Mensch wie Technik gleichermaßen würdigende Bebilderung eben das gesamte auf zwei Rädern abzufahrende Gelände kartographiert. Jindřich Janíčeks oft vielfarbige Illustrationen variieren zwischen technischen Zeichnungen, rasanten Geschwindigkeitsstudien, nostalgischen Vignetten, dokumentarischen Stadtszenen und stimmungsvollen Panoramasichten. So streift dieses Buch eben nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der illustratorischen Ebene mindestens so viele Etappen und Höhenmeter, Werkstätten, Landschaftsprofile und Geschwindigkeiten wie jene 22 Teams, die gerade zur dreieinhalbtausend Kilometer durchmessenden Tour de France aufgebrochen sind. Ondřej Buddeus (Text), Jindřich Janíček (Illustration): „Fahr Rad“, aus dem Tschechischen von Lena Dorn, Karl Rauch, 120 Seiten, 25 Euro, ab 5 Jahre.
Seit 1992 gibt es „Bookstart“, das weltweit erste nationale Buchgeschenkprogramm, das von der Lese-Wohltätigkeitsorganisation BookTrust veranstaltet wird. Jedes Kind vor seinem 12. Monat hat in England hat Anspruch auf ein kostenloses Bookstart-Paket. Familien mit Englisch als zusätzlicher Sprache können ein zusätzliches kostenloses Buch erhalten, darunter in Albanisch, Arabisch, Bengali, Bulgarisch, Türkisch und Urdu. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es Buchstart-Programme, in Hamburg und in Österreich. Im südlichen Nachbarland hat die Buchstart-Initiative die Übersetzung des Bilderbuchs „Guten Morgen, schöner Tag“ gefördert. Es kommt mit zusätzlichem Text in Türkisch, Kroatisch-Bosnisch-Sebisch-Montenegrisch, in Englisch und Arabisch. Erzählt wird der Tagesablauf eines kleinen, geschlechtsneutral gezeichneten Kindes, das in Reimen die Welt beobachtet. „Einen roten Baustein dran, einen blauen drauf, grüner, gelber, weißer Stein kommen obenauf.“ Diese Veröffentlichung ist in seiner Mehrfachübersetzung gelebte Integration und möglicherweise Anlass für weitere Buchstart-Gründungen (als kleinere Schwester des eher spärlich angenommenen Bundes-Kulturpasses aus dem vergangenen Jahr). Elisabeth Steinkellner (Text) und Michael Roher (Illustration): „Guten Morgen, schöner Tag!“, übersetzt ins Türkische von Şerafettin Yıldız, ins Kroatisch-Bosnisch-Serbisch-Montenegrisch von Filip Kozina, ins Englische von Alexandra Berlina, ins Arabische von Mahmoud Hassanein, Tyrolia-Verlag, 24 Seiten, 12,95 Euro, ab 2 Jahre.
Als Einübung Kognitionsphänomene spielt dieses Bilderbuch mit der klassischen „Denk nicht an Tiger / rosa Elefanten“-Aufforderung, die unweigerlich dazu führt, dass wir an einen rosafarbenen Elefanten – oder hier eben an einen Tiger denken müssen: „Und so funktioniert es: Was immer du dir vorstellst, male ich auf der nächsten Seite … WAHNSINN! Machen wir einen kurzen Test: Du schließt einfach die Augen und denkst an EINE KUH, DIE BALLETT TANZT. Machst du das jetzt? GUT. Wenn du fertig bist, kannst du umblättern.“ In der Tiefenpsychologie wird dieses Beispiel als Verdrängung bezeichnet. Woran wir nicht denken wollen, ist umso präsenter. Der südafrikanische Schriftsteller und Illustrator Alex Latimer („Folge niemals einem Dinosaurier“, „Die Ente blinzelt nicht“) malt zunächst besagte Kuh, dann fordert er seine Leserinnen und Leser immer wieder auf, keinesfalls an Tiger zu denken, mit dem für Kinder gewiss überraschenden Ergebnis, dass zahlreiche, ganz unterschiedliche geformte Exemplare der gestreiften Raubkatze ein komplettes Buch füllen: eckige, dekonstruierte, langgezogene, als Meerjungfrau verkleidete Tiger, die humorvoll Seite für Seite erscheinen, in diesem Buch, das seiner Zielgruppe wie ein Zaubertrick erscheinen wird. Alex Latimer: „Denk bloß nicht an Tiger“, aus dem Englischen von Nicola T Stuart, Jacoby & Stuart, 32 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre
Am 22. Februar 2022 flog die russische Illustratorin Anna Desnitskaya mit ihren Kindern für eine Woche nach Zypern, es war ein Geschenk zum 10. Geburtstag ihres Sohnes: „Am 24. Februar sollte der Rückflug gehen. Um sechs Uhr früh begann meine Jüngste zu quengeln und unruhig zu werden“, erzählt sie im Nachwort dieses erschütternden Bilderbuchs, „ich wollte sie stillen, warf einen Blick auf mein Telefon und sah jede Menge Nachrichten: ‚Russland ist in die Ukraine einmarschiert’, ‚Russland beschießt Kiew mit ballistischen Raketen’, ‚Russische Landetruppen sind in Odessa’. In diesem Augenblick war mir klar, dass wir nicht nach Hause zurückkehren würden.“ Im israelischen Exil entsteht die Geschichte eines Mädchens, das sich erinnert: „Früher lebten wir in einer Großstadt. In unserer Küche stand eine sternförmige Papierlampe auf dem Fensterbrett. Wenn ich abends von der Musikschule nach Hause kam, konnte ich schon von Weitem unser Fenster erkennen: Durch die Novemberkälte leuchtete dort ein Stern.“ Dann beginnt der Krieg. Die Familie flüchtet. Alles gerät durcheinander. Sie leben in einem anderen Land, sie öffnen die Tür einer leeren, kalt erscheinenden Wohnung, sie hören eine fremde Sprache. Gegessen wird auf umgedrehten Pappkartons. „Sogar Mama ist hier irgendwie anders. Und ich auch.“ Erst langsam – und hier ist der Stern bedeutsam – richten sich die drei Geflüchteten in der Fremde ein. Diese Erfahrung geht an die Nieren, auch weil Desnitskayas äußert klaren, deutlich konturierten Illustrationen in kaum aushaltbarer Spannung zur traumatischen Erzählung steht. Anna Desnitskaya: „Ein Stern in der Fremde“, aus dem Russischen von Thomas Weiler, Gerstenberg, 40 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahre
Ein Wagnis geht die österreichische (in Hamburg aufgewachsene) Illustratorin Julie Völk mit ihrem Bilderbuch ein – denn ihre pastellenen, in Wasserfarben kollorierten, sehr feinen Zeichnungen haben nichts Gefälliges. Sie zeigen Insekten und Gliederfüßler mit nachgerade irritierenden, menschenähnlichen Gesichtern: „Es lebt ein Regenwurm als Nachbar einer Raupe. Die beiden plaudern freundschaftlich gesinnt … übers Wetter, übers Fressen, übers Leben – bis die Raupe plötzlich einen Faden spinnt.“ Die Raupe spürt, dass alles anders wird, deshalb baut sie einen Kokon. „Ruft der Regenwurm: ‚Sag, träum ich oder spinnst du?’ Sagt die Raupe: ‚Jeder spinnt doch dann und wann. In mir drin spüre ich seltsame Gefühle. Und ich glaub, dass ich sehr bald fliegen kann.’“ Die Conclusio dieser von Kinderliedermacher Andrew Bond erzählten Geschichte ist eine andere, doch lässt sich dieses Buch ebenso als Fabel über sich verändernde Freundschaftsverhältnisse lesen, über auseinanderstrebende Adoleszenzen, tröstlich auch für jene Kinder, die wegziehen und ihr angestammtes Umfeld verlassen müssen. Am Ende hat die zuvor spinnende, versponnene Raupe einen herrlichen Überblick und singt: „Wer spinnt und hört auf die Gefühle, dessen Welt wird weit und wunderbar und groß.“ Andrew Bond (Text), Julie Völk (Illustration): „Die Raupe spinnt“, NordSüd, 32 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre