Wartende Dinosaurier in einer Meta-Story, Wittgesteins Nashorn unterm Kinderbett, ein kochendes Kaninchen und ein beeindruckendes Sachbilderbuch zur Erd-Entstehung sind die schönsten Bilderbücher dieses Monats.
Kinder lieben Bücher, die vom Erzählen selbst berichten – ob Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, Cornelia Funkes „Tintenwelt“-Trilogie oder Jostein Gaarders „Sophies Welt“. Doch bereits für die Allerkleinsten gibt es Bilderbücher, die auf einer Metaebene ihre Entstehung selbst thematisieren, wie gerade „… aber wo ist die Geschichte“, ein hintersinniges Bilderbuch von Marianna Coppo. „Es war einmal eine weiße Seite“ steht eröffnend da, bevor vier putzige Kerlchen auftauchen: ein Dinosaurier mit roter Brille, ein Bär, ein Krokodil und eine Giraffe. Knuffig erscheinen sie, in einer Mischtechnik aus Tempera und Pastell gezeichnet, ohne Umrisslinien, sodass man unweigerlich annimmt, sie seien Stofftiere, wie sie landauf, landab in Kinderzimmern hausen. Zunächst stehen sie ratlos im Gelände, begleitet von einem neugierigen, rosafarbenen Häschen, das einen kleinen Rucksack aufgesetzt hat. Die vier Freunde brauchen eine Weile, bis sie verstehen, dass sie die Figuren eines Bilderbuchs sind. Allerdings eines Bilderbuches ohne Geschichte. Sie beschließen, abzuwarten, bis der Plot eintrifft.
So stehen sie geduldig auf der rechten Seite und bemerken nicht, dass der kleine Hase die freie, linke Seite nutzt, um seine eigene Geschichte aufzubauen. Seinem Rucksack entschlüpfen: ein schnell wachsendes Bäumchen, das wiederum Vögel, einen Brachiosaurus, später sogar ein regenbogenfarbenes Einhorn anlockt. Irgendwann merken die wartenden Gesellen, dass direkt nebenan das bunte Leben tobt, und sie wechseln zum überbordend phantastischen Treiben linker Seite. Als verspätet ein Storch mit Posttasche aufkreuzt, um die eigentliche Geschichte zu bringen, winken die Freunde ab: „Zu spät! Wir haben schon eine. Setz Dich, dann erzählen wir sie Dir!“ So erzählt dieses Buch für die Allerkleinsten auf einer Meta-Ebene über das Erzählen an sich. Es ist zugleich die verführerisch lockende Aufforderung, selbst Geschichte und Geschichten zu schreiben, ohne Angst vor der weißen Seite, die notwendigerweise am Anfang von allem steht. Marianna Coppo: „… aber wo ist die Geschichte?“, aus dem Italienischen von Ulrike Schimming, Bohem, 48 Seiten, 18 Euro, ab 3 Jahre
Im Jahr 1911 disputierte der österreichische Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit seinem Lehrer Bertrand Russell und gab an, es könnte nicht bewiesen werden, dass kein Nashorn im Zimmer sei. Russell soll sogar unterm Sofa nachgesehen haben. Er verlor damals diesen gewitzten Streit, der auf immer wieder neue Weise im Radikalen Konstruktivismus ausgetragen wurde. Es ist der Streit, darüber, ob wir das Nichts beweisen können, beispielsweise die Nicht-Existenz Gottes oder die eines Gefühls. Heinz von Foerster, einer der bekanntesten Vertreter des Radikalen Konstruktivismus, wies darauf hin, dass ein psychotherapeutischer Erfolg unmöglich sei, wenn man einem Menschen, der offensichtlich weiße Mäuse sieht, immer wieder versichert, da liefen keine Mäuse über die Wand. Der Disput von 1911 wurde im Kinderbuchbereich bereits 2015 aufgegriffen von Françoise Armengaud und Annabelle Buxton in „Wittgensteins Nashorn“ (bei Diaphanes). In diesem Jahr erzählen Noemi Schneider und das Berliner Illustratoren-Duo Golden Cosmos (Doris Freigofas und Daniel Dolz) in knalligen Farben die Geschichte des kleinen Jungen Ludwig, der mit einem scheinbar imaginären Freund spricht, mit dem titelgebenden Nashorn. Der Vater versucht – wie dereinst Bertrand Russell – zu beweisen, dass kein Tier im Kinderzimmer haust. Schaut er in den Schrank, sagt der Junge: „Unterm Bett.“ Schaut er unters Bett, sagt Ludwig: „Jetzt sitzt es unter dem Schreibtisch“ und so weiter. Ludwig deutet schließlich zum Himmel, wo kein Mond zu sehen ist. Natürlich weiß der Vater, dass es einen Mond gibt – und so schließt diese knallig illustrierte Geschichte mit einem argumentativen Patt. Ludwig bekennt, er wolle später Philosoph werden (und steckt damit vielleicht auch die Leserinnen und Leser an). Ein Buch zum Staunen, für Kinder und junggebliebene Fans von Ernst von Glasersfeld, Francesco Varela, Markus Gabriel und Heinz von Foerster. Golden Cosmos (Illustration), Noemi Schneider (Text/Idee): „Ludwig und das Nashorn“, NordSüd, 40 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre
Eine neue Parabel zur Senkung der Arbeitsmoral kommt von den Italienern Giovanna Zoboli (Text) und Mariachiara di Giorgio (Illustration). Sie erzählen die Geschichte eines Hasen, der jedes Jahr eine hervorragende Gemüsesuppe kocht (offensichtlich in einem Topf der Marke „Le Creuset“) und dann, angeregt von den begeisterten Essern, eine Fabrik eröffnet. Doch etwas geht schief. Ein Shitstorm setzt die Dosenfirma unter Druck, der Hase gerät in Panik und entscheidet, sichtlich fertig mit seinen Nerven, an den heimischen Herd zurückzukehren. Er schließt die Fabrik und „die Suppe vom ersten Herbsttag, dem 21. September, zubereitet in dem Topf, neben dem nichts anderes stehen darf, mit dem besten Gemüse, vollendet im Schatten süßer Träume, die einfach nur Träume sind und so schön, dass sie Suppen besser machen. Einmal im Jahr.“ Die Zeichnungen sind detailliert, präzise, anspielungsreich (selbstverständlich denkt man an Andy Warhols „Campbell’s Soup Cans“). Doch bleibt die Frage nach der Moral dieser Geschichte. Soll Kindern vermittelt werden, dass Sie unbedingt ablassen sollen von Schnurren, die sie psychisch beschädigen? Oder wird insinuiert dass, wer wagt, keinesfalls gewinnt, dass also der Satz „Schuster, bleib’ bei Deinen Leisten“ stattdessen beherzigt werden soll? Viele Zutaten stecken in dieser wundersamen Suppe – und ausreichend Gesprächsstoff. Ein Buch mit offensichtlich doppeltem Boden. Giovanna Zoboli (Text) und Mariachiara di Giorgio (Illustration): „Die wundersame Suppe des Monsieur Lepron“, aus dem Italienischen von Ulrike Schimming, Bohem, 48 Seiten, 20 Euro, ab 4 Jahre
Zeitweilig vergriffen war diese aufwändige, daher auch schwer herzustellende, bereits im vergangenen Jahr erschienene Bilderbuch, das „die wunderbare Geschichte unserer Erde“ erzählt. Vom Urknall ausgehend bis zu den ersten Hominiden wird in zehn Kapitel archäologisches Grundwissen vermittelt; die Fossilienkunde, die Gestaltwerdung der Erde, das Zeitalter der großen Reptilien. Pergamentseiten, bebilderte Klappen, mehrfarbige Papiere und eine detailgenaue Bebilderung machen aus diesem Buch ein Museum – tatsächlich ist es entstanden für das „Museu de Ciènciens Naturals de Barcelona“, das seit mehr als 140 Jahren naturwissenschaftliche Themen auf gemeinverständliche Weise präsentiert. „Dieses Buch ist eine Hommage an die Geschichte der paläontologischen Illustration und insbesondere an die Stiche und Lithografien des 19. Jahrhunderts“, erklärt der Anhang. Die stilisierten Leisten der Bildtafeln spielen auf die Rahmung alter Panoramadrucke historischer Grafiksammlungen an. So ist dieses Bilderbuch nicht nur für Kinder, sondern auch für interessierte Erwachsene gestaltet – als große Einladung in die naturkundlichen Museen hierzulande, vom Düsseldorfer „Aquazoo“ bis zum „Senckenberg Naturmuseum“ in Frankfurt/Main. Aina Bestard: Wie alles begann“, aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen, Gerstenberg, 80 Seiten, 26 Euro, ab 8 Jahre