Dreckspatzen, versteckte Tiger und eine lang vergessene, herausragende Künstlerin beehren die schönsten Bilderbücher im Sommermonat Juni.
Kaum vorstellbar, dass vor zehn, fünfzehn Jahren nahezu niemand wusste, wer Hilma af Klint (1862-1944) war, die schwedische Pionierin der abstrakten Malerei – bis ihre Werkausstellung 2018 im New Yorker Guggenheim-Museum zur erfolgreichsten Schau in der Geschichte des Hauses avancierte. Die Kunsthistorikerin Julia Voss, Biografin af Klints (2020 bei S. Fischer) und ihr Mann, der Zeichner, Modedesigner und Künstler Philipp Deines (unter anderem entwirft er Plakate für Technopartys) haben eine Graphic Novel entwickelt, die auf mehreren Ebenen bemerkenswert ist. „Die 5 Leben der Hilma af Klint“ erzählt chronologisch die künstlerische Entwicklung der Malerin nach und zeigt, wie sie zu ihrer speziellen Sichtweise gekommen ist. Sie erzählt von den zahlreichen Widerständen, vom Unverständnis gegenüber einer Avantgardekunst, die zu einer Zeit ans Licht kam, als August Strindberg fest überzeugt war: „Frauen verwechseln ihre Halluzinationen so leicht mit der Wirklichkeit“. 122 Jahre später, nach Psychoanalyse, Radikalem Konstruktivismus, Anthroposophie und Werner Heisenberg ist dieser Satz eine Adelung der Vorausgegangenen. Hilma af Klint hat ihre spezifische, abstrakte Art der Weltdarstellung gelernt; bei spiritistischen Sitzungen, in der meditativen Naturversenkung, im Austausch mit ihren Freundinnen.
Sie hat an der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm die bildtechnischen Grundlagen erlernt. Als sie dann später Selbstvertrauen entwickelte und ihren (weiblichen) Erfahrungshorizont mit dem eigenen künstlerischen Schaffen verband, wurde sie zu jener herausragenden, endlich im Kanon der Kunstgeschichte angekommenen Malerin, die sie jahrzehntelang war. Sie wusste um ihre Bedeutung. Ihre Bewunderer waren damals noch nicht geboren. Diese Frau hat ihre Kunst in die Zukunft entworfen. Was also zeigt diese Graphic Novel nicht nur den jugendlichen Leserinnen und Lesern? Es zeigt den verantwortungsvollen Mut, zu sich und seinem Leben zu stehen. Es zeigt, warum es sich lohnen kann, neugierig zu bleiben, durchlässig zu werden für die Welt der Erscheinungen. Es zeigt, dass Kunst nicht nur Genie und Inspiration ist, sondern auch Arbeit, Vermarktung, Positionierung – und dass Durchsetzungsvermögen nicht nur im neoliberalen Sinne den gesellschaftlichen Aufstieg, sondern auch die Durchsetzung des je Eigenen in der Lebensführung meinen kann. Philipp Deines: „Die 5 Leben der Hilma af Klint“, mit einem Nachwort von Julia Voss, Hatje Cantz, 120 Seiten, 28 Euro, ab 12 Jahre
Dreckspatzen, Scheißkerle und Schweinigel – daran erinnert dieses unterhaltsame Buch – durchwirken unsere Sprache und zeigen, wie tief Sauberkeitsvorstellungen (und ihr Gegenteil) die Zivilisation durchdringen. Der polnische Illustrator Piotr Socha hat zusammen mit Monika Utnik-Strugala „eine nicht ganz so feine Geschichte von Schmutz, Krankheit und Hygiene“ zusammengestellt. Kurz vor der Corona-Pandemie begonnen, wurde Sauberkeit (Händewaschen) zu einem der bestimmenden Themen unserer Gegenwart. Die wechselreiche Historie wird hier umfassend dargestellt, von der rituellen Reinigung über den heiligen Gestank (Franziskus nannte Schmutz „ein stinkendes Symbol der Frömmigkeit“), von Ascheseifen in Mesopotamien bis zur aktuellen Krankenhaushygiene. Wir erfahren, dass Mafiosi in den 1920er Jahren nicht nur illegal Alkohol gebrannt und Spielhöllen gegründet, sondern auch legale Waschsalons geführt haben – daher die „Geldwäsche“, dass der Begriff „Seifenoper“ zurückgeführt wird auf den Hörspielboom der 1930er Jahre, als Hersteller von Reinigungsmitteln als Hauptsponsoren auftraten, sogar der rassistische Missbrauch von Gesundheit, Sauberkeit, Hygiene wird hier umfangreich vorgestellt (wie Rudyard Kiplings Gedicht „Die Bürde des weißen Mannes“ von 1899). Piotr Socha (Illustration), Monika Utnik-Strugala (Text): „Das Buch vom Dreck“, aus dem Polnischen von Dorothea Traupe, Gerstenberg, 216 Seiten, 30 Euro, ab 10 Jahre
Mit “Im Verborgenen” erscheint hierzulande das erste Buch von Lucile Piketty – ein kleines Werk, das aus verschiedenen Gründen sowohl ab 5 Jahre (in Deutschland), also auch mit dem Altershinweis 9-12 Jahre (in Frankreich) verkauft wird. Piketty studierte in Paris und New York Illustration. Sie arbeitet für Hermès und die Louis Vuitton Foundation, veröffentlicht in Zeitschriften, gibt limitierte Kunstbücher heraus und illustriert seit 2017 auch Kinderbücher. Das hier vorliegende ist eine Pop-Up-Besonderheit. Die vorgestellten Tiere sind tatsächlich versteckt, müssen durch Anheben einer Papierspirale entborgen werden – dann stehen sie aufrecht, lediglich an einem Nylonfaden hängend. Ob 5-jährige Kinder lange ihre Freude an dem Buch haben werden, hängt von ihrer Behutsamkeit ab (die man Kindern durchaus zutrauen kann). Doch ist dieses Buch ebenso für den Coffeetable geeignet. Beim ersten Durchblättern leuchten alle Augen. Es ist eine herausgehoben schöne, zarte Veröffentlichung. Lucile Piketty: „Im Verborgenen. Entdecke exotische Tiere in ihren magischen Papierverstecken“, aus dem Französischen von Ebi Naumann, Aladin, 12 Seiten ab 5 Jahre