Ein niedlicher Waldbewohner aus der Ukraine, eine Handreichung für Kinder, das Victory-Zeichen Winston Churchills, noch einmal Borst vom Forst und passend zum Beginn der Olympischen Spiele: Ein ungewöhnliches Sachbuch über den Traum von Gold, der Heldengeschichten anders erzählt – das sind die Bilderbücher des Monats Juli.
Erwachsene Literaturliebhaber kennen möglicherweise eines der vielen Schriftsteller-Handbücher oder die Insel-Verlagsreihe „Handreichung zum Gemeinsein“. Ganz unintellektuell gestaltet sich hingegen die Handarbeit der jüngsten Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Gesellschaft: Kinder begreifen die Welt wortwörtlich mit den Händen und beschmutzen ihre Finger voller Begeisterung, was die ungebrochene Beliebtheit von John Cages „Matsch! Das Backbuch“ aus dem Jahr 1983 erklärt. „Ob du ein Brett anschraubst, Mittagessen kochst, einen Knopf annähst, eine Mauer baust oder Musik komponierst – du erschaffst etwas. Und dazu brauchst du deine Hände.“ Von dieser gestaltungsphilosophischen Erinnerung ausgehend greift das bebilderte Kinder-Handbuch von Magda Garguláková und Vítězslav Mecner in den weiten Kosmos der Handbetrachtungen. Mit anatomischen Grundlagen eröffnend, werden rasch die unterschiedlichsten Handtypen vorgestellt – von der knöchernen über die ungeschickte bis zur piktographischen Wegweiserhand. „Man sagt, dass die Hand viel über eine Person verraten kann. So hat jeder Beruf eine ‚andere’ Hand – die Landwirtin scheut sich nicht, in der Erde zu wühlen, während die Ärztin ihre Hände regelmäßig wäscht, der Schmied drückt den Hammer ziemlich fest, aber der Florist muss zu den Blumen zärtlich sein. Die Arbeit, die wir verrichten, formt auch unsere Hände, die sich daran gewöhnen und anpassen.“
Die Bedeutung des Fingerabdrucks für die Kriminologie wird in diesem Buch ebenso erklärt, wie zahlreiche Muskeln, Sehnen, Nerven, Adern mit allerlei Detailwissen: Dass die freien Nervenenden den Schmerz fühlbar machen, die Meissner-Körperchen aber die Berührung und Ruffini-Körperchen Wärme spüren lassen, dürfte nicht allen Erwachsenen deutlich vor Augen stehen. „Die Hand ist ein komplexer und perfekt funktionierender Mechanismus. Damit die Hand handeln kann, müssen ihre einzelnen Teile genau aufeinander abgestimmt sein.“ Vorgestellt werden die schönsten Handspiele: von Schere, Stein, Papier bis zum Fingerschnipsen, und schnell wird klar, dass hier kein reines Anatomie-, sondern auch ein kulturwissenschaftlich interessiertes Buch entstanden ist. Wir betrachten die Hand als Sensor: beim schnellen Fiebermessen oder wenn wir die Hand im Winter aus dem Fenster halten. Wenig später wird genau auf die Veränderungen der Hand im Lauf unseres Lebenswegs geschaut, auf die Gebärdensprache und den Handkuss, aufs Winken und die beliebte Namaste-Geste. Es ist berührend – noch so ein Handwort – wie hier über 82 Seiten die Welt allein mit den Händen erspürt und alle Leserinnen und Leser erinnert werden, welche Bedeutung die Hand in oder vielmehr für unsere Zivilisation hat.
Beinahe alle kennen das Brusttrommeln Tarzans, die gereckte Faust Freddie Mercurys, das Victory-Zeichen Winston Churchills, auch die „Hand Gottes“ von Diego Maradona findet Platz in diesem sowohl lehrreichen, als auch unterhaltsamen Buch, dessen schönste Doppelseite fragt: „Wie wäre es ohne Hände?“ Wir könnten keine Diebe knebeln, Basketball würde allein mit dem Kopf gespielt, unsere Zähne müssten ins Autolenkrad beißen. „Ist eine Hand besser als die andere? Natürlich nicht, aber jeder bevorzugt eine seiner Hände. […] In manchen Kulturen wird die linke Hand bis heute negativ wahrgenommen- Darauf muss man z.B. in Indien, in den arabischen Ländern oder in Nordafrika achtgeben.“ Und „Wendeltreppen in Burgen führen meistens im Uhrzeigersinn nach oben – das erschwerte den Eroberern (meist Rechtshändern) den Angriff und erleichterte den Verteidigern die Verteidigung.“ Die Handlung dieses lehrreichen Bilderbuchs lässt keinen Plot-Twist aus – als ein umfassendes Ordnungsangebot. Ein Kompendium wie dieses reicht allen Altersgruppen die Hand. Dafür gibt es mit Vergnügen ein satt geklatschtes High Five! Magda Garguláková (Text), Vítězslav Mecner (Illustration): „Alles über die Hand“, aus dem Tschechischen von Lena Dorn, Aladin/Thienemann-Esslinger, 82 Seiten, 20 Euro, ab 8 Jahre
Aus dem Bücherregal hervorgeholt: Hyperaktiv ist der kleine Frischling dieses liebevollen Bilderbuchs von Yvonne Hergane und Wiebke Rauers: „Während seine Geschwister wie am Spinnfaden hinter Mama hertrotten, hufelt Borst ständig aus der Reihe.“ Borst vom Forst verletzt sich beim Stöbern an einer Muschel, die aus unerklärlichen Gründen im Wald gelandet ist. Dieses Ding verstört, weil es der Frischling nicht einordnen und nur „Tutweh“ nennen kann. Er macht sich auf die Suche nach der Herkunft dieses für ihn gefährlichen Objekts und fragt verschiedene Tiere, die ihm allerdings nicht weiterhelfen können; bis er eine Robbe trifft. Die einfallsreiche Sprache von Yvonne Hergane korrespondiert mit der kulleräugigen Figur und den schreiend komischen Bilderbuchszenen Wiebke Rauers’. Eine Geschichte, mit der sich auch die Großen beschenken. Yvonne Hergane (Text), Wiebke Rauers (Illustration) „Borst vom Forst“, Magellan Verlag, 32 Seiten, 14 Euro, ab 3 Jahre
Ende dieses Monats begannen die Olympischen Spiele in Paris – und bereits vorab stellt das Bildersachbuch „Der Traum von Gold“ einige der größten olympischen Sportlegenden vor, gewidmet dem einzigen unbekannten Goldmedaillengewinner: Bei den Olympischen Spielen 1900 haben die beiden niederländischen Ruderer François Brandt und Roelof Klein ein Problem: ihr Steuermann zu schwer, weshalb sie auf den Straßen von Paris einen 10-jährigen Jungen rekrutieren – und mit ihm hauchdünn gewinnen. Nationalitäten spielten damals im Sport keine große Rolle. Der Name des kleinen Steuermannes wird in der Ergebnisliste allerdings nicht notiert, man weiß bis heute nicht, wer er ist. Dafür kennen junge Leserinnen und Leser nach Lektüre dieses informativen, mit überwiegend fotorealistischen Illustrationen versehenen Buchs, wer der erste Marathonläufer war: Pheidippides läuft 490 v. Chr. von Marathon nach Athen, um den Sieg über die persische Armee weiterzutragen – vermutlich ist diese schöne Geschichte eine Erfindung Plutarchs, „der kein Zeitzeuge war, sondern erst fünf Jahrhunderte später gelebt hat.“ Gesichert hingegen sind die mythenumwobenen Glanzleistungen Muhammad Alis (im Alter von 18 Jahren Olympiasieger im Halbschwergewicht), Ulrike Meyfarths (der damals zugleich jüngsten und ältesten Olympiasiegerin im Hochsprung 1972 und 1984), natürlich sind Schach-Genie Bobby Fischer und Skispringer „Eddie the Eagle“ vertreten, die herausragende Para-Sportlerin Verena Bentele (12-fache Goldmedaillengewinnerin im Biathlon und Skilanglauf), Leichtathletikstar Jesse Owens, der die nationalsozialistischen Olympischen Spiele 1936 beherrschte.
Doch ist dieses Buch mehr als eine Ahnengalerie: es erinnert an Rassismus und Antisemitismus im Spitzensport, an den Mordanschlag in München, als ein palästinensisches Terrorkommando die israelische Mannschaft überfiel. Erzählt wird die Geschichte von „Babe“ Didrikson Zaharias, die 1932 bei den amerikanischen Mannschaftsmeisterschaften ganz allein für ihr Team aus Texas antritt – gegen Mannschaften mit mehr als zwanzig Sportlerinnen: „Trotzdem steht sie in sechs Disziplinen als Siegerin auf dem Podest: im Kugelstoßen, Speerwerfen, Hürdenlauf, Baseballwerfen, Hochsprung und Weitsprung.“ Sebastian Deisler und seine Depressionen werden thematisier – Ende der Neunziger, Anfang der 2000er Jahre das größte Talent im deutschen Fußball, doch: „Ich habe nie Zeit gehabt zum Wachsen, nie die Zeit, erwachsen zu werden, ich hatte nicht mal die Zeit, Fehler zu machen.“ Wer erinnert sich noch an Samia Yusuf Omar? „Das Mädchen stammte aus einer bitterarmen Familie in Mogadischu (…) qualifiziert sich für 200-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking“ und flieht später übers Mittelmeer, um an den Spielen 2012 in London teilzunehmen: „Aus beschwerlichen Umwegen erreicht sie die Küste Libyens und besteigt zusammen mit anderen Flüchtlingen ein Schlauchboot. Es wird unterwegs von einem größeren Schiff entdeckt, aber bei einem chaotischen Rettungsversuch fällt Samia ins Wasser und ertrinkt.“ Dieses Buch zeigt, dass sich die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports vor allem außerhalb von Tartanbahnen, Fußballstadien und Langlaufloipen ausdrückt und dass ein erinnerungswürdiger Champion mehr sein muss als nur ein pflichtschuldiger Erfüllungsgehilfe des neoliberal anmutenden Wahlspruchs „schneller, höher, weiter.“ Volker Mehnert (Text), Paulina Eichhorn (Illustration): „Der Traum von Gold. Sportlegenden zwischen Hoffnung, Sieg und Niederlage“, Gerstenberg, 96 Seiten, 24 Euro, ab 10 Jahre
In der Ukraine sind Tukoni echte Kinder-Stars. Es gibt ein Computerspiel über diese niedlichen Waldgeister und für die deutsche Ausgabe wird geworben mit Cornelia Funke: „Wer Oksana Bulas Bilder ansieht, ist danach einfach ein bisschen glücklicher.“ Die wortkarg erzählte Story: nach einem Gewitter ist Tukonis Freund etwas Schlimmes zugestoßen (möglicherweise ein Blitzeinschlag, doch wird das Problem keinewegs exakt gezeigt, hier müssen die kleinen Leserinnen und Leser rätselraten). Die verschiedenen Baum-, Blumen- und Tiertukoni kommen zusammen und beschwören in einem magischen Heilungsritual ebenfalls unbenannte Kräfte, bis der kleine Haupt-Tukoni teetrinkend bei oder mit seinem Freund in den Ästen sitzt, offensichtlich sind ihm frische Triebe nachgewachsen. Nichts ist deutlich in dieser kleinen, enigmatischen Waldgeschichte, die mit Flora und Fauna verwoben ist, angesiedelt zwischen Tolkiens Ents-Kosmos, den finnischen Mumins-Trollen und dem ukrainischen „lisúnka“ – in neblig-grünen, manchmal auch sehr erdigen Doppelseiten, die ein echtes Geheimnis bergen. Oksana Bula: „Tukoni. Die Waldbewohner“, aus dem Ukrainischen von Nina Weller, Tulipan, 44 Seiten, 16 Euro, ab 4 Jahre