In diesem Sommermonat mit rasend-leuchtenden Farben, einem Kleinod aus dem Nachlass von Wolf Erlbruch, mit einem norwegischen Märchen und – ebenfalls aus Norwegen – mit einem Jungen, der offensichtlich unter der Parentifizierung durch seine Mutter leidet.
Nachdem der NordSüd-Verlag in diesem Frühjahr Erfolge feiern konnte mit seinem knalligen Sonderfarbdruck der philosophischen Gute-Nacht-Geschichte „Ludwig und das Nashorn“, legt Gerstenberg in diesem Monat nach mit „Hierhin, dahin. Immer in Bewegung“ von Romana Romyschyn und Andrij Lessiw. Beide wurden 1984 geboren. Sie leben und arbeiten im west-ukrainischen Lwiw. In Zeiten eines mehr und mehr durchdrehenden Akzelerationismus und 45 Jahre nach Paul Virilios „Fahren, fahren, fahren …“ (Merve) schaut dieses Buch auf verschiedene Weisen der Fortbewegung, beginnend beim Fußweg: „Der älteste erhaltene Schuh ist über 10.000 Jahre alt.“ Ungefähr zur gleichen Zeit wurden Skier und das Kanu erfunden – viereinhalbtausend Jahre vorm Rad. So eilt dieses Buch in verschiedenen Geschwindigkeiten über die Seidenstraße, gerüstet zu Heerzügen, über Expeditionen des Herodot bis zu Neil Armstrong und Buzz Aldrin, den ersten Menschen auf dem Mond.
Es geht in die höchsten Höhen des Mount Everest, in den Marianengraben, die tiefste Rinne der Erde, mit Ballonen, Jetpacks und Motorflugzeugen in die Lüfte, mit „Voyager 1“ in die ferne Zukunft – in etwas dreihundert Jahren wird die Raumsonde die Oortsche Wolke erreichen, 1,6 Lichtjahre von der Erde entfernt, „und dann weiterfliegen, vielleicht unendlich lange.“ Das Buch reist in alle Winkel, macht nur kurz Rast, erklärt stets kurz und knapp, weshalb Menschen immer wieder (auch) unfreiwillig reisen. Man zieht durchs Labyrinth, über verschlungene Routen, wird an die große Tierwanderung erinnert, wenn Gnus und Zebras jährlich 800 Kilometer durch die Serengeti streifen. Es ist Ein Buch, das wehmütig macht, zwei Jahre vor der russischen Invasion im Original erschienen, als zumindest hierzulande undenkbar schien, dass auch Abermillionen Bewohner der Ukraine, der Heimat dieses Künstler-Duos, gezwungen sein werden, aufzubrechen gen Westen. Romana Romyschyn, Andrij Lessiw: „Hierhin, dahin. Immer in Bewegung“, übersetzt von Claudia Dathe, Gerstenberg, 64 Seiten, 26 Euro, ab 10 Jahre
Am 11. Dezember des vergangenen Jahres starb der berühmte Wuppertaler Illustrator Wolf Erlbruch („Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“). Nachgelassen sind einige Bilder, die er für den Kinderkalender des Peter Hammer-Verlags gezeichnet hat – und die nun, begleitet von Gedichten des Josef-Guggenmos-Preisträgers Arne Rautenberg, neu erscheinen. Es sind eine Handvoll Gedichte über den Mut: „hey gans! / warum machst du nen seiltanz? / ach weißt du ich krieg manchmal so schübe / in denen ich übe / nicht nach hinten nicht nach unten zu gucken / meine angst einfach runterzuschlucken“. – Stärkende Worte, die ansetzen, wo die Kraft ist. Und weil im Jahr 2023 die Kindererziehung um einige psychologische Details informierter ist, als noch vor zwanzig Jahren, werden die Kinder keineswegs unter Druck gesetzt. Es gibt ebenso ein Gedicht mit dem Titel „etwas essen das ich nicht mag?“, das sehr hellsichtig bekennt: „sich etwas trauen ist echt stark! / doch muss ich nicht immer stark sein / und mut kann auch mal quark sein / zum beispiel ich als katzenkind / mag keine mäuse weil ich find / so eine mausschwanzsuppe / ekelhaft! / ist mir echt schnuppe! / ich esse nichts was ich nicht mag / und wisst ihr was ich merke? / auch das gibt mir stärke!“ Arne Rautenberg (Text), Wolf Erlbruch (Illustration): „Mut ist was Gutes“, Peter Hammer, 48 Seiten, 14 Euro, ab 4 Jahre
Als ein kleiner Junge allein im dunklen Fahrtstuhl steckenbleibt, traut er sich nicht, den roten Notknopf zu betätigen: „Auf den darf nur Mama drücken. Der ist für Kinder verboten.“ Beim Spielen hat er die Zeit vergessen, ist nach Hause gelaufen, um ausnahmsweise den Fahrstuhl zu benutzen. „Weil er sich beeilen musste. Damit Mama sich keine Sorgen macht. Zehn Stockwerke sind viele Stufen. Viel zu viele.“ Der Junge hat Angst und denkt gleichzeitig an seine um ihn sorgende Mutter. Augenscheinlich besteht eine Abhängigkeit, sodass die Schwärze um ihn auch ein Sinnbild ist für ein allgemeines Verlorensein, für eine Hoffnungslosigkeit gegenüber einer der wichtigsten Bezugspersonen. So besteht dieses Buch aus zwei parallel erzählten Geschichten, aus dem unmittelbaren Geschehen im steckengebliebenen Fahrstuhl („Sein Herz klopft. Im ganzen Körper. Bis in die Arme. Sogar im Kopf. Alles in ihm klopft“) und aus der Schilderung einer fragilen Mutter-Kind-Beziehung. Ebenso groß wie die Sorge über die daheim vermutlich Wartenden, ist die Angst vorm Absturz des Fahrstuhls. Eine Geschichte über das Erwachsenwerden, über Furcht, Zittern und eine bedrückende – von der Mutter wahrscheinlich nicht einmal bewussten – Parentifizierung. Constance Ørbeck-Nilssen (Text), Øyvind Torseter (Illustration): “So dunkel!”, aus dem Norwegischen von Maike Dörries, Gerstenberg, 48 Seiten, 16 Euro, ab 10 Jahre
Im 19. Jahrhundert zogen Peter Christen Asbjørnsen (ein Förster) und Jørgen Engebretsen Moe (ursprünglich Geistlicher) durch Norwegen. Sie sammelten Volksmärchen, wie hierzulande die Brüder Grimm. Diese Märchen wurden ab 1841 veröffentlicht – darunter eine Trollparabel, die nun vom mehrfach ausgezeichneten Kinderbuchautor Mac Barnett aus Kalifornien umgedichtet und mit neuem Ende versehen wurde. Ein braunbäriger, offensichtlich hungriger Troll sitzt mit Lätzchen und Besteck unter einer Brücke: „In letzter Zeit hatte er nichts gefressen außer einem Stiefel und Zeugs aus seinem Bauchnabel. Man kann sagen: Ihm knurrte der Magen.“ Der Reim ist wichtig, denn als endlich eine kleine Ziege den Steg überqueren will, rappelt sich der hungrige Wegelager hoch und fragt drohend: „Wer will die saftigen Wiesen mähen? Wer wagt’s über meine Brücke zu gehen?“ Die Ziege sagt, sie sei Zack und nachdem ihr entgegengebracht wurde, wie sie verarbeitet werden könnte, als Auflauf, Sülze, als „Ziege am Spieß, gedämpft mit Gries“, fleht sie, verschont zu werden – ohnehin käme schon bald ihr großer Bruder des Wegs, der dicker sei und auch besser schmecke. Doch dieser Bruder verweist wiederum auf den nächsten, der noch größer sei; und es kommt, wie es kommen muss, denn „der dritte Ziegenbock mit Namen Zack rammte den Troll der von der Brücke flog hinein in die Stromschnellen und den Wasserfall hinab, der hieß: ‚Der große Wasserfall“. Es hat sich ausgereimt im Leben des Trolls, der den Hals nicht vollkriegen konnte und durch eine Mischung aus Eitelkeit und Gier seinen gemütlichen Platz unter der Brücke verliert. Mac Barnett (Text), Jon Klassen (Illustration): „Drei Ziegenböcke namens Zack“, aus dem Englischen von Thomas Bodner, NordSüd, 48 Seiten, 18 Euro, ab 5 Jahre