Such- und Wimmelbilder, imaginäre Freunde und die Sichtbarkeit des Unsichtbaren zeigen die Bilderbücher dieses Sommers.
Vor 200 Jahren starb der große Romantiker E.T.A. Hoffmann, eine der zentralen Figuren jener Berliner Phantastik, zu der auch Ludwig Tieck gehörte – und in deren Tradition heute noch Hartmut Lange steht (“Das Haus in der Dorotheenstraße“). Eine der schönsten Jahrestag-Veröffentlichungen ist der leinengebundene, multimediale Band aus dem Secession-Verlag, der mit einem QR-Code angeboten wird, über den man die verwunschene Begleitmusik von „Culturama“ ansteuern kann (abzuspielen über alle gängigen Musikplattformen unter „Das fremde Kind“) – einen musikalischen Remix nach Motiven aus der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach und dem von E.T.A. Hoffmann komponierten Quintett für Harfe in d-Moll. Das romantische Kunstmärchen selbst ist aus Hoffmanns „Serapionsbrüder“-Sammlung gelöst, und erzählt von Felix und Christlieb, zwei Geschwistern, die sich gegen die sadistisch-kalte Erziehungsbemühungen eines Familienfreundes behaupten müssen und im Zauberwald ihre blühend-lockende Phantasie entdecken – die in Gestalt des titelgebenden fremden Kindes erscheint: „Beiden Kindern war es in der Tat so, als ob sie schon lange das fremde Kind gekannt und mit ihm gespielt hätten“. Man denkt sogleich an die vielen anderen Geschichten, in denen eine wundersame Gestalt in das Leben von Kindern tritt, an das „Märchen von der Unke“ der Brüder Grimm, an Paulas Löwe bei Helen Stephens oder an Astrid Lindgrens „Karlssons vom Dach“.
Hoffmanns Kinder erfahren mit diesem Anderen selbst zu denken, zu fühlen, sogar auf einem Regenbogen wollen sie nun rennen – im unbekannten Reich, aus dem das fremde Kind zu ihnen gekommen ist. – Bereits zur Zeit der Entstehung dieses Textes war Erziehung ein Thema des Zeitgeistes. Man denkt an den soldatischen Drill Heinrich von Kleists auf der einen, an die bildungsbürgerlich-liebevolle Ausbildung Johann Wolfgang von Goethes auf der anderen Seite. Bizarr und wie aus der veganen Hipstercommunity Berlin-Mittes abgeschaut ist eine der ersten Szenen, in denen zwei wohlerzogene Kinder zu Besuch kommen, aber nicht vom Kuchen essen dürfen, „weil sie, wie die Eltern sagten, das nicht vertragen könnten, sie erhielten dafür jeder einen kleinen Zwieback“. Lebendig sind die besuchten Kinder („froh und leicht“), wohlerzogen, still, gelehrsam die beiden Zwiebackessenden („der albern pumphosigte Junge mitsamt seiner bebänderten Schwester“). Es ist ein Jammer. In dazu passenden, erdig-düsteren Brauntönen sind die naiven Illustrationen der bulgarischen Künstlerin Katina Peeva gehalten. Wie so oft bei E.T.A. Hoffmann schauen einen hier dutzendfach Augen an: Kinder-, Nachtfalter-, Fledermaus- und Eulenaugen, die wie staunende Menschen aus dem Buch in die wirkliche Welt blicken. Man fühlt sich beobachtet. Peevas Illustrationen schwingen mit dieser Geschichte, erscheinen rätselhafter als die distanzierteren Bilder, mit denen Lisbeth Zwerger 1977 bekanntgeworden ist. Eine Geschichte über Kinder in einer lebensfeindlichen Erwachsenenwelt, in der aktuellen Ausgabe offensichtlich für bibliophile Liebhaber konzipiert. E.T.A. Hoffmann: „Das fremde Kind“, illustriert von Kazina Peeva, Secession, 96 Seiten, 25 Euro
Such- und Wimmelbilder bilden ein eigenes Genre – für Dreijährige (beispielsweise von Vicky Bo), für Erwachsene (wie in der „Unsichtbare Kunst“-Reihe von Bodypainter Jörg Düsterwald) – und für „die ganze Familie“, wie es in früheren Zeiten einmal hieß. Das großformatige „99 Tomaten & eine Kartoffel“ von Delphine Chedru besticht zunächst durch den wertig erscheinenden, im Verhältnis zum Buchblock überstehenden Pappeinband – sechs Millimeter Rücken im interessanten Verhältnis zur Überhöhe von 35 Zentimetern. Dahinter blüht eine naiv gezeichnete Welt; vierzehn Doppelseiten mit je 99 Objekten – Äpfel, Birne, Autos, Busse und Schneeflocken. Doch eines dieser je 99 Objekte ist anderes als die übrigen Icons. Mal müssen Macarons zwischen Torten, Bisquitrollen, Bagels gefunden werden, dann sollen alle Nägel inmitten zahlreicher Taschenmesser, Zangen, Spachtel und Schraubenzieher gefunden werden. Ein Buch für lange Sommerferiennachmittage, das immer wieder neu beschäftigt. Delphine Chedru: „99 Tomaten & eine Kartoffel“, aus dem Französischen von Felicia Bomhoff, Insel Verlag, 36 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre
Nach E.T.A. Hoffmanns „Das fremde Kind“ ist „In meinem Rucksack wohnt ein Tiger“, die zweite Geschichte des Monats, in der von einem imaginären Freund erzählt wird. Im Rucksack des kleinen Ben lebt die Katze „Tiger“ und keine Einwände lassen den Jungen von seiner Überzeugung abrücken, dass dieses erfundene Tier echt ist. „’Und wieso bewegt sich dein Tiger nicht’, fragt Lili auf unserm Schulweg. ‚Weil Tiger schläft’, antworte ich. ‚Is doch logisch.’“ Manchmal redet Ben mit seinem unsichtbaren Freund, den er nicht zeigen möchte, weil Tiger menschenscheu ist. Hier sehen Kinder, dass es aufregend sein kann, ein Geheimnis zu haben, dass ihre Ängste und Sehnsüchte eine imaginäre Gestalt annehmen können. Illustratorin Sabine Kranz ist seit jeher von Tieren begeistert.
„Die Erwachsenen haben mich im Glauben gelassen, dass ich irgendwann vom gesparten Taschengeld ein echtes Pony kaufen und dass es bei Oma im Garten leben könnte“, erzählt sie. Am Ende hätte es fast für den Sattel gereicht. Doch dann hat sie in einen großen Buntstiftkasten investiert. Heute zeichnet sie jede Menge Katzen, Hunde und natürlich auch Pferde mit Stift und Tablet. Die Tiger-Katze aus dem Buch ist gleichzeitig sichtbar und unsichtbar (man denkt an Schrödinger), deshalb ist sie von den übrigen Figuren unterschieden. „Etwas Unsichtbares zu zeichnen ist so eine Sache“, schreibt Sabine Kranz, „was heißt unsichtbar, für Ben ist die Tigerkatze ja sichtbar. Andere übersehen sie. Ich wollte die Katze farblich vom Rest abgrenzen, also wurde sie rot und transparent, weiß. Die Außenwelt besteht aus fünf Farben (und deren Überlagerungen). Manchmal dringt die eine in die andere Welt ein. Im Text ist oft die Rede davon, dass Tiger schläft, Angst hat oder sich ganz klein macht. Im Bild dagegen wird Tiger immer größer. Als alle über ihn reden, sieht ihn auch seine Freundin Lili. Und er wird übermächtig groß, als sie für Ben Partei ergreift.“ Ein Bilderbuch das zeigt, wie sich eine kleine Welt vergrößert – mit Phantasie. Uwe-Michael Gutzschhahn (Text), Sabine Kranz (Illustration): „In meinem Rucksack wohnt ein Tiger“, Sauerländer, 32 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre