Es gibt zahlreiche Bücher, in denen Gesellschaftsspiele die Erzählung vorantreiben: das Schach (von Stefan Zweigs Schachnovelle über Thomas Glavinic’ „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ bis zu Harry Potter), das Mensch ärgere Dich nicht in Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ bis zu Klaus Teubner: „Catan. Der Roman“. Gleich zwei Kinderbücher erzählen nun ihre Variante des Kinderspiels „Stille Post“. Außerdem gibt es im Januar notwendige Gedanken über Freiheit und Marc-Uwe Kling stellt einen vollkommen auf den Kopf gestellten Superhelden-Comic vor.
Wenn in einer Firma über fünf Abteilungen hinweg Informationen weitergegeben werden, kommen am Ende lediglich 20 Prozent der ursprünglichen Nachricht an. Das Phänomen der „Stillen Post“ – eigentlich ein Kinderspiel – ist in unserer Zeit bedeutsam geworden. Denn wie bei der Stillen Post weitergereichte Fake News fluten die Informationshorizonte nahezu aller Menschen. Die oft absichtlich gestreuten Falschmeldungen werden ausgeschmückt, angereichert, sie sinken als toxisches Sediment auf den Nährboden unserer Demokratie. Dass Instagram und Facebook fortan auf Faktenchecks verzichten, ist in ein Dilemma. Kinder können bereits früh vertraut gemacht werden mit den Phänomenen des Hörensagens, als erste Fake-News-Desensibilisierung, beispielsweise mit Andrea Tuschkas Bilderbuch „Stille Post“. Sie erzählt die Wald-Geschichte von Bär und Maus, die in großen Streit geraten. „Beide waren felsenfest davon überzeugt, recht zu haben, und keiner wollte auch nur eine Tannenzapfwurflänge nachgeben.“ Der Bär flüchtet, die Maus schmollt, möchte aber unbedingt das letzte Wort haben und dieses letzte Wort dem einstigen Freund mitteilen – mithilfe anderer Tiere. „Bär, ich mag dich gar nicht mehr, / komm bloß niiiie wieder hier her! / Ich war im Recht bei uns’rem Streit / und mir tut überhaupt nichts leid!“ Via bibbernden Biber, Hasen mit der verstopften Nase, murmelndes Murmeltier, nuschelnde Muschel, fast taube Taube und maulenden Maulwurf kommt natürlich der entgegengesetzte Wortlaut beim brummelnden Bären an. „Bär, du weißt, ich mag dich sehr / Bitte komm doch wieder her! / Du hattest recht bei uns’rem Streit / und: Mir tut es furchtbar leid!“
So endet die Geschichte heiter und gibt dennoch einen ersten Eindruck von den Folgen möglichen Falschhörens. Illustratorin Rebekka Stelbrink hat die „Stille Post“-Bilder aus vielen kleinen Stückchen zusammengesetzt. Diese Snippets wurden mit Aquarell- und Acrylfarbe koloriert, ein vager Diorameneffekt entsteht. Das auf diese Weise durchaus aufwendig gestaltete Buch ist eine künstlerisch eigensinnige Collage in Beinahe-3D, auf der inhaltlichen Ebene zudem eine Fabel über Entschuldigungen und über einen seltenen Moment alternativer Fakten, der ausnahmsweise nicht zum Streit, sondern zur Versöhnung führt. „Sie mussten beide zugeben, dass es ganz schön anstrengend gewesen war, wütend zu sein. Und überhaupt kein schönes Gefühl! Die Freunde nahmen sich vor, nie wieder im Streit auseinander zu gehen. Dann aßen sie den Honigkuchen, grinsten wie zwei Honigkuchenpferde und plauderten über Gott und die Welt. Denn diese war ja jetzt wieder in allerbester Ordnung. Andrea Tuschka (Text), Rebekka Stelbrink (Illustration): „Stille Post“, Bohem, 36 Seiten, 20 Euro, ab 3 Jahre“
Als Erwachsener denkt man möglicherweise an das berühmte Interview des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ mit dem Philosophen Theodor W. Adorno aus dem Mai 1969 – mit der wunderbaren Feststellung: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung…“ – worauf Adorno lapidar antwortete: „Mir nicht.“ Wenig ist in Ordnung auch dieser Tage. Die Menschen wirken oft aufgekratzt, aggressiv, wie der bärtig-langhaarige Zausel der im zweiten „Stille Post“-Buch ausruft: „Ihr könnt Euch mal gehackt legen!“ Illustratorin Nele Palmtag zeigt diese Szene in ihrem weit ausklappbaren „Brülle Post“-Leporello. Sie und Texterin Rike Drust haben jahrelang auf St Pauli in Hamburg gewohnt. Sie haben oft erlebt, dass jemand auf der Straße plötzlich unverblümt brüllt, ohne dass für Umstehende sogleich erkennbar ist, weshalb dieser Mensch ausrastet. So ist es auch in diesem Leporello. Das „Stille Post“-Kinderspiel wird umgedreht. Es wird gebrüllt. Alle Personen, die den kurzen „Ihr könnt Euch mal gehackt legen!“-Gefühlsausbruch des bärtigen Zausels erleben, hören einen anderen Wortlaut. Der Fahrradhändler denkt, hier beschwere sich jemand, er habe ein „Kackleben“. Die Streifenpolizistin hört: „Er will sich nackt ins Gras legen“, der Straßenmusikant: „Er will, dass wir was abgeben“ – und so geht es weiter, vom Lieferanten mit der Sackkarre über die Friedensdemonstrantin bis zur alten Gattin, die ihren Mann im Rollstuhl vor sich herschiebt. „Er kann den schweren Sack heben? Er würde PEACE ’ne Chance geben! Er will mal meinen Mann pflegen!“ Gestalterisch ist dieses Leporello anspruchsvoll. Auf zweimal einem Meter werden die Szenen fortlaufend gezeigt: Stiftzeichnungen auf freien Farbflächen mit sehr kräftigen Tuschefarben, die in die jeweils nächste Szene ragen – auf diese interessante Weise eine Geschichte erzählend, die uns erinnert: Beizeiten hören wir nur, was wir hören wollen, nicht nur, wenn es weitergeflüstert, sondern auch, wenn es wie hier überdeutlich gebrüllt wird und der bärtige Zausel statt „Ihr könnt Euch mal gehackt legen!“ eigentlich anmerken wollte: „Na hört mal! Ich mag Zeltfeten.“ Nele Palmtag (Illustration), Rike Drust „Text“: „Brülle-Post-Leporello“ Kunstanstifter, 16 Seiten, 20 Euro, ab 3 Jahre
Das neue Jahr hat begonnen, 2025 liegt offen vor uns – und nicht nur aufgrund der bald stattfindenden Bundestagswahl wird „Freiheit“ eines der Schlüsselbegriffe auch der kommenden 12 Monate. Sybille Hein, die bereits 2008 den Band „Wir sind alle frei geboren – Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Bildern“ illustriert hat, versucht eine Annäherung an diese so weitgefasste Vorstellung von Autonomie, die ursächlich verbunden ist, mit der uns allen innenwohnenden Würde: „Freiheit spürst Du am Boden, mich weichem Gras unterm Po. Freiheit spürst Du in luftigen Höhen. Freiheit meint, alles fragen und alles wissen zu dürfen.“ Diese einst in westlichen Gesellschaften selbstverständlich genommene Erfahrung wird im Bilderbuch auf die kindliche Lebenswelt übertragen. Kleine Menschen erleben qua Erziehung Autorität (ja, auch wenn diese Erziehung vermeintlich antiautoritär ist), sie kennen ebenso Unterscheidungen und sie haben ein Gespür für das vermeintliche „Anders-Sein“, vielleicht erhalten sie sogar eine Ahnung von Dialektik, wenn im Buch festgestellt wird, Freiheit bedeute: „Die Kleinen dürfen so viel wie die Großen. Die Armen so viel wie die Reichen. Die Schwachen so viel wie die Starken. Und selbst Superhelden kriegen keine Extrawurst gebraten.“ Sybille Heins’ Reigen ist ein Gesprächsangebot. Hier kann man – egal welcher politischen Partei anhängend – die je unterschiedlichen Folgen diskutieren, die aus einem weiten, vielleicht sogar einem unbedingten Freiheitsbegriff folgen. Sybille Hein: „Freiheit … Du große Wundertüte“, Fischer/Sauerländer, 48 Seiten, 15,90 Euro, ab 4 Jahre
Dass jeder Held auf die Dauer langweilig wird, wusste bereits Philosoph Ralph Waldo Emerson. Seit anderthalb Jahrzehnten hat das postheroische Setting Konjunktur – auch wenn es sich seinem Ende zuneigt, angesichts politischer Führerinszenierungen (das Amtsfoto von Donald Trump), religiöser Extremismen, respektive ihrer verquer-unlustig erscheinenden Protagonisten, die auf Teufel komm raus Stärke behaupten. Dem entgegengesetzt erzählen Comics, Serien, Romane von Heldinnen oder Anti-Helden, die jedem Militarismus-Wahn kritisch gegenüberstehen. Die Superhelden-Dekonstruktion „The Boys“ wurde im Mai 2024 vorzeitig um eine fünfte Staffel verlängert. Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ erhielt den Deutschen Buchpreis 2020, und Marc-Uwe Klings neue Graphic Novel schaut auf eine Welt, in der alle Figuren Superhelden sind, außer sein charmant gezeichneter Titel-Normalo. Mitte statt Maß bestimmen das Leben dieses jungen Mannes, der keine einzige Superkraft hat und als Telefonist einer Superhelden-Notrufzentrale angestellt ist. Irgendwann bekommt er eine äußerst wichtige Aufgabe zugeteilt… Marc-Uwe Kling und Florian Biege erzählen ihre Geschichten jugendfrei (es gibt nur eine anrüchige Bemerkung), mit popkulturellen Anspielungen, als quirlige Satire auf Social-Media-Inszenierungen, Casting-Shows und Selbstwert-Reels. „Normal und die Zero Heroes“ zeigt eine lustig verdrehte Wokeness, die „Power-Shaming“ sanktioniert und zugleich das Mit-sich-Führen eines Taschentuchs heldenhaft verklärt. Band 2 ist für den Herbst dieses Jahres angekündigt. Marc-Uwe Kling (Autor), Jan Cronauer (Autor), Florian Biege (Illustrator): „Normal und die Zero Heroes“, Rowohlt, 208 Seiten, 25 Euro