Auf verschiedene Weise wird unsere Welt geordnet … das zeigt ein empfehlenswertes Bilderbuch, das gerade im Gerstenberg-Verlag erscheint. Der Riese Timpetu bekommt ein neues Antlitz und ein kleines Nilpferd sehnt sich nach Afrika. Doch zuerst schauen wir durch mehrere Fenster.
Die postfaktische Zeit ist eine Herausforderung für unsere Zivilgesellschaft. Deshalb ist es durchaus angeraten, früh Wahrnehmungsmodi einzuüben, wie in Katerina Goreliks „Schau durchs Fenster“. Hier wird Seite für Seite der Blick durch ein ausgestanztes Fenster freigegeben und zunächst festgestellt, was offensichtlich durch die Scheiben zu sehen ist: „Zu Hilfe! In dem Haus da brennt’s!“ oder „Was für ein schreckliches Brüllen kommt denn durch das Fenster?“ Um nach Umklappen der Seite die ganze Sicht auf die zuvor nur als Ausschnitt gesehene Szene freizugeben. Das Feuer ist nicht mehr gefährlich, sondern zeigt einen Drachen, der seinen Bagel toastet, der vermeintlich frei brüllende Löwe ist ein Fernsehausschnitt. Die freundliche alte Dame ist eine gruselige Hexe, die einen Zaubertrank anrührt, die Skelette sind keine Gespenster, sondern gehören zur Praxis von Doktor Maus usw. Ein heiter gestimmtes, sanft ironisches Buch mit Aha-Effekt. Katerina Gorelik: „Schau durchs Fenster!“, aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann, Insel, 60 Seiten, ab 3 Jahre
1910 erschien das Gedicht „Vom Riesen Timpetu“ des Pädagogen und Kinderbuchautors Alwin Freudenberg. „Psst! Ich weiß was. / Hört mal zu! / War einst ein Riese Timpetu. / Der arme Bursche hat – oh Graus – / im Schlafe nachts verschluckt ’ne Maus. / Er lief zum Doktor Isegrimm: / ‚Ach Doktor! Mir geht’s heute schlimm. / ich hab‘ im Schlaf ’ne Maus verschluckt, / die sitzt im Leib und kneipt und druckt.’ / Der Doktor war ein kluger Mann, / man sah’s ihm an der Nase an. / Er hat ihm in den Hals geguckt. / „Wie? Was? Ne Maus habt ihr verschluckt? / Verschluckt ’ne Miezekatz dazu. / so lässt die Maus euch gleich in Ruh.“ Es gibt einige illustrierte Fassungen, die nun um eine grafische Version des ursprünglich aus Dresden stammenden Tobias Krejtschi ergänzt werden.
Das Pappbilderbuch verbindet den märchenhaften Teil der Geschichte mit unserer Gegenwart. Aus dem wie verwunschen wirkenden Wald kommt dieser Riese, in eins mit der Natur lebend, die ihm keine Lösung ist. So macht sich der Riese auf und durchmisst mit großen Schritten einige Entwicklungen der Zivilisation, stapft durch die Landwirtschaft, hinüber zu einem Naherholungsgebiet mit domestiziertem Hund, lesender Dame und Kinderwagen, bis er endlich die Stadt erreicht. Dort helfen die Wissenschaften. In der Arztpraxis des ebenfalls märchenhaft klingenden Doktor Isegrimm gibt es einen Computer und ein Ultraschallgerät. Doch helfen wird am Ende eine ironische Idee: „Verschluckt ’ne Miezekatz dazu. / so lässt die Maus euch gleich in Ruh“ In natürlichen Grüntönen ist diese Geschichte gehalten, die in dieser Aufarbeitung zwischen Mythos und Moderne changiert und Kindern ein Gefühl dafür gibt, dass alles Leben, selbst das hochtechnisierte, in Verbindung mit dem Wald, den Wiesen, den Tieren und alt hergebrachten Geschichten steht. Alwin Freudenberg (Text), Tobias Krejtschi (Illustration). „Vom Riesen Timpetu“, Tulipan, 24 Seiten, 13 Euro, ab 2 Jahre
Menschen fliehen in den meisten Fällen, um einer ausweglose Situation zu entkommen. Das verstehen Kinder, auch die, die in Sicherheit leben, spätestens mit dem Märchen von den Bremer Stadtmusikanten und der berühmt gewordenen Losung: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“ Ähnliches denkt das hier vorgestellte, im Zoo eingesperrte Nilpferd. Es sehnt sich nach seiner Heimat. Doch anders als bei den Brüdern Grimm, kann dieses Tier allein in Gedanken fliehen. Die Gitterstäbe des Zoos sind zu hoch, es hat keine Perspektive. Doch: „Was kann ich verlieren, dachte das Nilpferd. Etwas Besseres als Unglück finde ich überall.“ Dann rennt es los und nur wer vorher aufmerksam gelesen hat, weiß, dass die Flucht des Nilpferds allein in der Phantasie stattfindet. Dieses poetisch bebilderte Buch beschaut eine Frage, die sich vielleicht auch jene Kinder stellen, die unglücklich in ihrer Familie sind und hier ein Angebot zum gedanklichen Ausbruch bekommen. Jutta Richter (Text), Petra Rappo (Illustration): „Nil, Nil, ich komme!“, Hanser, 40 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre
Gesellschaftliche Ordnungen werden derzeit hinterfragt. Keinesfalls zufällig ist, dass dementsprechend zahlreiche Bücher zeigen, wie verschiedenartig unsere Welt sortiert wird. Ein Beispiel ist Dennis Duncans „Index. Eine Geschichte des“, das im vergangenen Herbst bei Antje Kunstmann erschienen ist. Neil Packers „(K)ein wie das Andere. Vom Ordnen und Sortieren“ ist, anders als Duncans Arbeit, für Kinder konzipiert. Auch wenn das Aufräumen des Zimmers eher nicht zu den beliebten Übungen zählt, sind Sortierung, Einordnung und Klassifizierung selbstverständlicher Teil auch der jungen Leserinnen und Leser, die mit Neil Packer Stammbäume, Bibliotheken, die Einzigartigkeit menschlicher DNS und verschiedene Muster erkennen. Welche Gleiche ist dennoch unterschieden? Ein großformatiges Buch mit umfangreichem Anhang (von Arvos Käseplatte bis zur Zeitleiste) und auf jeder Seite je verschiedenen Weisen des Ordnens und Sortierens. Neil Packer: „(K)eins wie das andere“, aus dem Englischen von Leena Flegler, Gerstenberg, 48 Seiten, 25 Euro