Es gibt Neues vom hyperaktiven Frischling „Borst vom Forst“; eine Winterparabel mit traumschönen Illustrationen, zum 20. Todestag der großen Schriftstellerin Astrid Lindgren „Mio, mein Mio“ und von Peter Sís die beeindruckende Geschichte eines stillen Helden, der 1939 tschechische Kinder vorm Holocaust gerettet hat.
Am 29. Januar 2002, starb die große Schriftstellerin Astrid Lindgren. Diesen 20. Jahrestag würdigend, gibt es ihr 1954 in Schweden erstmalig veröffentlichtes Kunstmärchen „Mio, mein Mio“ neu illustriert von Johan Egerkrans, die Geschichte des Waisenjungen Bosse, der von seinen Pflegeeltern gedemütigt wird und auf wundersame Weise ins „Land der Ferne“ gelangt, wo er seinen Vater, der König des Landes ist, endlich in die Arme schließen kann. In „Meine Erfindungen“ berichtet Astrid Lindgren, wie sie die endgültige Idee zum Buch bekam, als sie beim Spazieren „an einem Jungen vorbeiging, der etwas sorgenvoll auf einer Bank saß. Es war ein dunkler Herbstabend, und er sah so einsam und traurig aus. Ich bestimmte, dass er (Bosse) im Haus Upplandsgatan 13B wohnt, das lag daran, dass ich den Jungen in diesem Eingang verschwinden sah. Danach habe ich ihn nie mehr gesehen. Ist das nicht leicht merkwürdig?“
Die Literaturgeschichte ist übervoll von Erzählungen über verwaiste Außenseiter, die zunächst nichts von ihrer herausgehobenen Abstammung wissen, wie der „Tristan“ des Gottfried von Straßburg, der Drachentöter Siegfried aus dem „Nibelungenlied“, das „Aschenputtel“ aus dem Märchen der Brüder Grimm, der zaubernde Erlöser „Harry Potter“, Aragorn aus Tolkiens „Der Herr Ringe“ oder Luke Skywalker aus der „Star Wars“-Saga. – Die Phantasie, ein unentdeckt Anderer zu sein, ist eine wirkmächtige Lebenslüge, für die Johan Egerkrans eine Bildsprache gefunden hat, die sich auf entrückend-düstere Weise von der früheren, heiter-klaren Bildsprache Ilon Wiklands unterscheidet. Bosse/Mio wird auch nach Eintritt ins Land der Ferne als kleines, von einer übergroßen Umwelt bedrohtes Kind gezeigt. Er wächst über sich, aber nicht über die Welt an sich hinaus. Subtil unterstreichen Egerkrans Illustrationen, dass ein Kind als Kind gesehen und als Kind beschützt werden muss, um über sich hinauswachsen zu können, dass jeder Mensch in seinen frühen Jahren also beides braucht: das Land der Ferne, in dem es Abenteuer gibt – und einen Ort der Nähe, der Ruhe, die Umarmung eines Erwachsenen, der aufbauende, die Entwicklung stärkende Sätze sagt wie „Mio, mein Mio, wie du schon wieder gewachsen bist.“ (Astrid Lindgren: „Mio, mein Mio“, aus dem Schwedischen von Karl Kurt Peters, mit Illustrationen von Johan Egerkrans, Verlagsgruppe Oetinger, 144 Seiten, 15 Euro, ab 7 Jahre)
Als das erste „Borst vom Forst“-Buch vor viereinhalb Jahren erschien, war kaum absehbar, wie erfolgreich die liebevolle Geschichte um einen hyperaktiven Kulleraugen-Frischling werden würde. Inzwischen gibt es das erste Hörbuch. Im ersten Band verletzte sich das kleine Tier beim Stöbern an einer Muschel, die aus unerklärlichen Gründen im Wald gelandet war. Dieses Ding verstörte, weil es der Frischling nicht einordnen und nur „Tutweh“ nennen konnte. So machte es sich auf die Suche nach der Herkunft dieses für ihn gefährlichen Objekts und fragte verschiedene Tiere, die ihm allerdings nicht weiterhelfen konnten; bis „Borst vom Forst“ die Robbe Merilyn traf. Seit Anfang des vergangenen Jahres gibt es die Fortsetzung. Robbe Merilyn ist wieder dabei, die Sprachspiele auch. „’Was machst du da’, fragt Borst. ‚Ich Möwe’, sagt die Seemöwe. ‚Hab ich gerade erfunden’ Sie zickzackt, sackt ab, hackt mit dem Schnabel durch die Luft, dass Borst und Merylin beim Zuschauen der Schwindel packt: ‚Coole Möws, oder?’“ Dieses Mal findet Borst ein Ei, aus dem kurz darauf ein Adlerküken schlüpft, das die beiden Freunde zurück zur Familie bringen wollen. Das Buch ist witzig, undidaktisch wie „Vom kleinen Maulwurf, der wissen will, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“, es will Kinder unterhalten – und ist wie bereits das erste eine Empfehlung. (Yvonne Hergane, Wiebke Rauers; „Borst vom Forst will hoch hinaus“, Magellan Verlag, 32 Seiten, 14 Euro, 4-6 Jahre)
Es ist Winter. Durch den verschneiten Wald im Norden streift eine alte, hungrige Katze und trifft auf einen jungen, starken Habicht. Der verspottet das arme Tier, lässt es sterbend zurück. Nachts zieht der Tod durch das Gehölz, findet die im Schnee liegende Katze, befreit sie aus Mitleid von ihrem Körper und verwandelt sie in eine junge, wunderschöne Eule. Der Habicht ist fasziniert und verliebt sich sofort. Doch die Eule erinnert sich an die Grausamkeit des Habichts, raubt ihm die Augen und verlässt den einst so stolzen Vogel. „Für ihre Grausamkeit bekannt, mieden die anderen Vögel die Gesellschaft der Eule“, schreibt Rita Fürstenau in ihrem verwunschenen „Im Winter“-Bilderbuch. Es nadelt auf jeder Seite nadelt und die Sicht ist grieselig, wie durch einen Schneesturm auf diese todesnahe Fabel schauend; eine Fabel, die wie aus alten Zeiten über uns gekommen scheint, tatsächlich jedoch von Rita Fürstenau selbst erfunden wurde. (Rita Fürstenau: „Im Winter“, Rotopol, 32 Seiten, 12 Euro, ab 8 Jahre)
Eine der interessantesten Veröffentlichungen des aktuellen Bilderbuch-Frühlings kommt vom tschechischen Schriftsteller Peter Sís, der in „Nicky & Vera“ die Geschichte einer realen Rettungsaktion erzählt; aus der Sicht eines Kindes. Die heute 92-jährige Vera Gissing wurde am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit 668 weiteren Kindern aus der Tschechoslowakei evakuiert. Die Reise wurde damals organisiert von Sir Nicholas „Nicky“ Winton, nachdem die ČSR im Oktober 1938 gezwungen worden war, das Sudentenland an Deutschland abzutreten. „Nicky erkannt, dass bald Krieg wäre und etwas unternommen werden musste. England nahm Flüchtlinge unter siebzehn auf – wenn sich Familien fanden, die sich um die Kinder kümmerten, und jemand die Reise organisierte.“ Im März 1939 marschierte die deutsche Armee in den Rest der Tschechoslowakei ein – und im Frühjahr und Sommer verließen acht Züge Prag. „669 Kinder aller Altersgruppen kamen wohlbehalten in London an.“ Am Ende des Krieges kehrt Vicky nach Prag zurück und muss erfahren, dass ihre Eltern im Todeslager umgekommen waren. Sie siedelt endgültig nach England über, heiratet und gründet eine Familie. Vicky hat ein ruhiges Leben, wie Nicky, der niemandem von den Kindern erzählt. Erst 1988 kommt die Geschichte ans Licht, als Winton in eine Fernsehsendung eingeladen wird und alle Gäste plötzlich aufstehen. Es sind eben jene Kinder, die er gerettet hat (hier kann die BBC-Sendung angeschaut werden).
In einem Interview mit Radio Prague International erinnert sich Peter Sís (hier): „Ich habe Ende der 1980er Jahre kurz von Nicholas Winton gehört. Das war erst drei, vier Jahre nach meiner Auswanderung nach Amerika, also hatte ich ganz andere Probleme. Damals kam mir aber in den Sinn, dass ich seit meiner Kindheit zwei Menschen in Prag kannte, die Freunde meines Vaters waren. Sie erzählten, sie seien in England aufgewachsen und einst mit dem Zug dort hingefahren. Das klang zwar interessant, aber wie bei vielen Dingen und Ereignissen des Zweiten Weltkriegs habe ich nicht weiter nachgefragt. Also wusste ich über kleine Dinge Bescheid, aber erst nach 1988 fügte sich alles zusammen.“ Peter Sís erzählt nicht nur eine Geschichte über Engagement und die lebensrettende Bedeutung eines Menschen, der Heldenhaftes tat, ohne sich selbst als Held zu fühlen. „Nicky & Vera“ ist eine Parabel über echte Lebensfülle, über die Weise, wie innerer Reichtum die Welt an sich bereichert. Immer wieder wird gezeigt, in welcher Weise Menschen aus der übervollen Tiefe Ihres Seins Kraft schöpfen, wie beispielsweise Sir Winstons anfängliche Leidenschaft für Mathematik, Briefmarken, Fotografie, Fechten (er war in der Auswahl für das britische Olympiateam), wie seine Neugier gegenüber die Welt zur lebensrettenden Ressource wird – und wie dadurch der Reichtum von Vera ermöglicht wird; dargestellt durch Bilder, in denen auch das gezeichnet wird, was die Figuren in sich tragen (siehe oben). So ist dieses Buch keine Geschichte über den Holocaust, sondern eine über Mut geworden, über die Schönheit der guten Tat: „669 Kinder hätten nicht überlebt, wäre Nicky nicht nach Prag gefahren und hätte sie gerettet. Ich war kein Held, sagte Nicky. Ich war nicht in Gefahr wie echte Helden. Ich habe nur gesehen, was getan werden musste.“ (Peter Sís: „Nicky & Vera. Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete“, aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Gerstenberg, 64 Seiten, 18 Euro ab 5 Jahre)