Nach 52 Bilderbuch-Ausgaben des Schaltjahrs 2024 gibt es einen Rückblick auf die besten Bilderbücher des letzten Monats: Mit einer hintersinnigen Geschichte vom Nichts, einem laut widersprechenden Fabelwesen, dem ordnungsliebenden Igalus und einem weiteren Blick unter der Erde, wo sich bereits jetzt Wunderliches vorbereitet.
Bereits in der Antike haben große Denker wie Demokrit oder Aristoteles nachgedacht über das Nichts, später Giganten wie Gottfried-Wilhelm Leibnitz, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Martin Heideggers Auseinandersetzung mit dem Nihilismus gipfelte in der großen Frage: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ – und er kam zu der Vermutung, das Nichts sei der Grund unseres Seins. Um Kinder nun angemessen auf Heidegger und die Wucht des daran anschließenden Existenzialismus in Form von Werken wie „Das Sein und das Nichts“ von Jean-Paul Sarte vorzubereiten, bietet ein buntes Bilderbuch ab 5 Jahre „Die Geschichte vom Nichts“ und stellt dieses Nichts als schwarze, wenngleich betrübte Wolke vor: „Das Nichts ist traurig. ‚Ich bin ein Nichts und bleibe ein Nichts. Und ich sehe nach nichts aus. Wie ein Nichts eben. Aber das ist ja nichts Neues. Da kann ich nichts machen.’“
Diese herzzerreißende Klage eröffnet ein folgenreiches Gedankenspiel. Denn das bedrückte Nichts überlegt, wie eine Welt aussehen würde, in dem es – nun ja: nicht vorhanden wäre. Es greift eine Denkfigur auf, die Kindern wohlvertraut ist. Zahlreiche Geschichten wurden ersonnen über wütende Kinder, die sich ihre eigene Abwesenheit vorstellen. Sollen die Eltern doch sehen, was sie davon haben, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter nicht mehr bei ihnen ist. Von ähnlich bockigem Geist ist dieses Bilderbuch gewordene Nichts, das in einen brummelnden Selbst-Ver-Nichtungs-Rausch gerät. „Niemand könnte mehr sagen: ‚Nichts da!’ Oder: ‚Macht nichts!’ Oder: ‚Danke, ich möchte nichts!’ Oder: ‚Damit kann ich nichts anfangen.’ Und es gäbe auch nichts mehr zu lachen!“ Es geht, wie so oft: ums Angenommen-Werden. So findet die Geschichte zu seinem glücklichen Ende.
Das Nichts, es fehlt den lustigen Gestalten, die es zuvor ignoriert haben. Es fehlt dem Affen mit dem Spitzhut, dem Elefanten mit den Schlappohrsocken und dem Tweetsakko-Nashorn. Sie alle begrüßen das kurz abwesende Nichts auf der letzten Seite mit Freuden. „Wir brauchen das Nichts. Denn es ist nicht für nichts gut. Sondern für vieles.“ Wie Graffiti wirken die kontraststarken Bilder von Florence Dailleux. Sie sind digital entstanden mit groben Pinseln, die an Kohle und Graphit erinnern. Auch muss man unweigerlich an kolorierte Holzschnitte denken, dann wieder an Malkreiden. Die eine Figur erinnert an Roy Lichtenstein, die Dynamik an Keith Harings berühmt gewordene „Subway Drawings“. Es gibt partielle Ähnlichkeiten mit den Kinderbuchillustrationen des „Blaufußtölpel“-Stars Rob Biddulph. Das Nichts, es bleibt als Horizont unseres Da-Seins selbstverständlich unheimlich. Tröstlich allerdings belibt, dass es zu einem herausragenden Bilderbuch wie diesem führt, das nicht nur Kindern ab fünf Jahren, sondern auch Martin Heidegger gefallen hätte. Regina Schwarz (Text), Florence Dailleux (Illustration): „Die Geschichte vom Nichts“, Aracari Zürich, 32 Seiten, 15 Euro, ab 5 Jahre
In diesem Monat ist (kalendarischer) Winteranfang, und doch wächst bereits der Frühling unter der gefrorenen Erdschicht. Daran erinnert diese Veröffentlichung der ungarischen Illustratorin und Designerin Juli Litkei. Im Hochformat – das Buch muss um 90 Grad gedreht werden – und zeigt die ober- wie unterirdische Entstehung einer Kartoffelpflanze. Die Zeichnungen stehen auf einem sicheren Realitätsgrund, deshalb gibt es auch ein kleines Glossar, wo alle hier vorkommenden Tiere porträtiert werden, von der Weinbergschnecke über die Gemeine Feuerwanze bis zum unweigerlichen Maulwurf (Talpa europea) mit seinen Grabekrallen und den winzigen, „von Lidern bedeckten Augen, mit denen sie nur Helligkeit und Dunkelheit wahrnehmen können.“ Gleichzeitig sind diese Tiere zaghaft anthropomorphisiert, vermutlich, um die kindliche Identifikation zu erleichtern. In dieser reizenden Dualität ist ein Buch der Erkundungen und Entdeckungen entstanden, der Arten- und Formenvielfalt, eine Einübung ins langsame Wachsen, gemalt in erdigen Tönen, sodass man sich oft selbst unter Tage wähnt. Es steckt zugleich eine Hoffnung darin: es wird immer weitergehen, der nächste Frühling kommt bestimmt. Juli Litkei: „Da wächst doch was“, aus dem Französischen von Ursula Bachhausen, Gerstenberg, 56 Seiten, 20 Euro, ab 4 Jahre
2011 wurde die niederländische Illustratorin Marije Tolman zusammen mit ihrem Vater Ronald Tolman ausgezeichnet mit dem Troisdorfer Bilderbuchpreis (für „Das Baumhaus“). Schon bietet sich eine weitere Arbeit als Geschenk zum Heiligen Abend oder zum Chanukka-Lichterfest an: „Igalus“, eine „Geschichte aus der Sauseschrittzeit“ (augenscheinlich unserer Gegenwart), von einem heldenhaften kleinen Insektenfresser erzählend, der eilfertig Wald und Wiesen mithilfe seines Dreizacks reinigt, während die anderen Tiere umherirren, alles zumüllen, die Natur verschandeln. Doch Igalus’ Taten werden entdeckt. Kann dieser putzige Igel auf eine Würdigung hoffen, auf gesunde Nachahmung? – Marije Tolmann zeichnet ihre Viecher auf monochrome Fotografien, wie bereits in anderen Büchern („Der kleine Fuchs“ oder „Die Eiche und der Federschopf“). Ihre Tiere sind, egal welcher Art, beinahe gleich groß geraten, ein Rudel Nashörner rennt durch die Landschaft, Eisbärenbabys schaukeln im Geäst; obwohl sie kurze Beinchen haben, kraxeln Krokodile einen hohen Berg hinauf in diesem Bilderbuch, das auch ein Plädoyer ist für den achtsamen Umgang mit unseren Ressourcen (dennoch kommt ein echter Kamin vor). Marije Tolman: „Igalus“, aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Gerstenberg, 32 Seiten, 15 Euro, an 4 Jahre
Das Ende des Jahres naht und mit einem großen, optimistischen „Ja!“ sollten wir 2025 trotz aller Fährnisse begrüßen. Doch sollt ebenso erlaubt bleiben, im Bartleby’schen Sinne zu widersprechen. Selbstbehauptung und Abgrenzung sind Eigenschaften, die in unseren psychologischen Zeiten Konjunktur haben, auch wird debattiert, wie bereits Kinder lernen können, Einspruch so zu erheben. Zur Einübung hilfreich ist Antje Damms Scherenschnittfabel „Das Nori sagt Nein!“. Sie erzählt von einem tierischen, nicht näher bestimmbaren Mini-Fuchswesen, das sich unter Tage eingerichtet hat, tagsüber Beeren sammelt, ein ebenso friedliches wie bescheidenes Leben fristet, sich glücklich fühlt, bis es eines Tages von einem Kind entführt wird. Eine bunte, hier als ausgeschnittene Fotografie herbeirollende Murmel ist in Noris Behausung gefallen, und wird mitsamt diesem kleinen Tierchen herausgefischt. Allerlei Seltsames geschieht infolgedessen, bis Nori lauthals protestiert: „Nein!“ Die 1965 in Wiesbaden geborene Antje Damm, Mutter von vier Töchtern, ist eine schlüssige, dezent auch vor Missbrauch schützende Geschichte gelungen, die jungen Bilderbuchfreunde einen konstruktiven Vorschlag unterbreitet, wie wir einem Unbehagen begegnen können. Antje Damm: „Das Nori sagt Nein!“, Moritz Verlag, 48 Seiten, 16 Euro, ab 4 Jahre