Es ist Winter, trotz der frühlingshaften Dezembertemperaturen – so sehen wir den Schnee in den Bilderbüchern zum Jahreswechsel, mit Tieren aus dem hohen Norden, mit zwei Geschichten, die sich auf je verschiedene Weise mit Ängsten beschäftigen – und mit einem sehr witzig gezeichneten Hund, dem sein „Hausmensch“ weggelaufen ist.
Am 21. Dezember tauchte die Polarnacht den hohen Norden in vollkommene Dunkelheit. Jetzt, im Helleren, lohnt der Blick in ein schneeweißes Bilderbuch, das zahlreiche Tiere des Polarkreises vorstellt. Die niederländische Illustratorin Marieke ten Berge verbindet in ihrem Kompendium „Unser wildes Zuhause“ Tierillustrationen mit Texten Jesse Goossens. Sie stellen bekanntere Tiere vor, Elche und Eisbären, auch fremdere Lebewesen, wie die Dreizehenmöwe, den Basstölpel oder auch einen Klippenbrüter, der aussieht wie der kleinere Bruder eines viel bekannteren Polarbewohners. „Tordalk heiße ich – darunter kannst du dir sicher wenig vorstellen. In Frankreich nennt man mich ‚petit pingouin’ – kleiner Pinguin“ –, weil ich an Land wie ein Pinguin watschele. Und die Engländer sagen ‚razorbill’ zu mir, das bedeutet ‚Rasiermesserschnabel’. Hier wird die Besonderheit der 35 Tierportraits deutlich. Die Polarbewohner sprechen für sich, stellen sich ihren Leserinnen und Lesern unmittelbar vor. Das erhöht die Identifikation mit den schützenswerten Rentieren, Polarfüchsen und Walrossen. Im Vorwort schreibt Marieke ten Berge, dass sie genau das erreichen möchte. Alle, die „Unser wildes Zuhause“ lesen, sollen feststellen, dass es lohnt, für den Arten- und Klimaschutz einzustehen: „Die Natur im Norden ist sehr verletzlich. Nirgendwo auf der Erde sind die Folgen des Klimawandels deutlicher spürbar als in den Polargebieten. Das Sommereis schwindet. Die Gletscher schmelzen. Der Permafrost taut. Die Meere erwärmen sich … Sehr viele Tiere sind in ihrer Existenz bedroht.“
Jedem Tier ist eine Doppelseite gewidmet, mit einer großen Linolschnitt-Illustration und einem kleinen Steckbrief, in dem auch den jeweilige Grad der Gefährdung angegeben wird. Dazu ist ein aufwändig recherchierter Text abgedruckt. Weil diese Texte persönlich gehalten sind, dürfen die Robben, Eisbären und Schwalben schwätzen. Es gibt also nicht nur lexikalisches Wissen über Vorkommen, Aussehen und Lebenserwartung, sondern immer auch den fast prahlenden Blick. Der Polarhase mit den scharfen Krallen verrät, dass er sich im Frühling verrückt aufführt wie der Märzhase aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Der Pottwal brüstet sich damit, dass einer seiner Vorfahren das Walfangschiff „Essex“ versenkt und Herman Melville zu seinem Romanklassiker „Moby Dick“ inspiriert hat. Der Krabbentaucher wiederum ist empört, weil es Menschen gibt, die wagen, ausgerechnet aus ihm eine Speise zu bereiten, die Kiviak genannt wird. „Es heißt, dass der Polarforscher Knud Rasmussen nach dem Genuss von Kiviak an einer Vergiftung gestorben ist. Geschieht ihm Recht!“ Diese Mischung aus flapsigen Selbstbeschreibungen, biologischem Fachwissen und künstlerisch hochwertigen Illustrationen macht „Unser wildes Zuhause. Tiere im hohen Norden“ zu einem wertvollen Weihnachtsgeschenk für Leserinnen und Leser ab 5 Jahren. Viele Stunden kann man sich mit diesem umfangreich recherchierten, hochwertig gestalteten Buch beschäftigen, bis einem die tierischen Polarkreisbewohner geradezu verwandtschaftlich nahegekommen sind. Marieke ten Berge (Illustration), Jesse Goossens (Text): „Unser wildes Zuhause. Tiere im hohen Norden“, aus dem Niederländischen von Eva Schweikart, Aladin, 88 Seiten, 20 Euro, ab 5 Jahre.
Den einen machen Zahlen Angst, den anderen hilft das Zählen, um die Angst zu bannen. Tatsächlich gilt Rechnen als wirksame Strategie gegen Panikattacken. Wer danach mit ruhigerem Puls das Bilderbuch „Was zählt bist Du“ anschaut, fühlt sich unweigerlich an diese Anti-Panik-Selbsthilfe erinnert. In der Geschichte von Magda Hassan und Raffaela Schäbitz geht es um den besänftigenden Zusammenhang zwischen Angst und Zahl. Von der linken Bildseite nähert sich ein wild gepunkteter Gepard einem Kind, das auf der anderen Seite zu fliehen versucht. Die Erzählerin beschreibt das Tier. „Beinahe hätte ich ihn an meinen Beinen gespürt. Mit jedem Wort, das sie sagte, wuchs meine Nähe zu dem großen Tier. Sie sprach von seinen sanften Bewegungen, seinem glänzenden Fell und schilderte geradezu jeden Punkt darauf. So genau, dass ich den Geparden beinahe zu spüren meinte.“ Dieser Gepard ist eine Metapher für die schwer fassbare Angst des Kindes. Mit jeder Seite nähert sich das Tier mehr und mehr. Zum Glück ist dieses Kind nicht allein. Eine besänftige Stimme spricht aus dem Hintergrund. Sie versichert, das Kind müsse vor diesem Geparden ganz sicher keine Angst haben. „Wenn er dann kommt, musst du einfach nur die Punkte zählen, Das besänftigt ihn. Ist die Anzahl ungerade, wird er dich auch nicht fressen.“ Das Kind zählt also Punkte, die sich irgendwann auflösen, vom Fell prasseln und nun das Kind sprenkeln. Es verschmilzt mit dem Tier, das sich hier auf poetische Weise entgrenzt, ganz im Sinne des verführerischen Deterritorialisierungskonzepts der Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari, also der Auflösung einer Grenze in ein anderes Territorium. Dieses Einswerden mit der Angst, diese Deterritorialisierung des Tiers berührt auf untergründige Weise kindliche Vorstellungswelten. Tier werden ist ein bekanntes Kinderspielt und Tier geworden geht das zuvor verängstigte Kind zu einer nahegelegenen Pfütze. „Erstaunt erkannte ich mein Gesicht, das glänzende Fell und die Punkte darauf. Dann begann ich zu zählen.“ Diese Metamorphose hat Raffaela Schöbitz bunt illustriert. Der pastellene Aquarellhintergrund aus roten, violetten und tiefblauen Farbtönen steht im Kontrast zu einem scharf gezeichneten, in kräftigen Farben gehaltenem Vordergrund. Dort agieren die Figuren; der Gepard und das geschlechtslos gestaltete Kind, das jedes Kind auf dieser Welt sein könnte, mit seinen mandelförmigen Augen, den halblangen, schwarzen Haaren und seinen apfelroten Wangen. „Meist ist es das Unbekannte oder das Unfassbare, das uns Angst macht. Oft aber nicht etwa, weil es gefährlich ist, sondern nur, weil wir nichts oder nur zu wenig darüber wissen“, schreibt Magda Hassan, Autorin des Buchs, in ihrem kurzen Nachwort. Reicher wird die Welt, so ihre Botschaft, wenn wir das Eigene im Anderen sehen, wenn wir zulassen, dass „die Grenzen verschwimmen und die Punkte wandern“. So kann es passieren, dass ein fremder Gepard ins Kinderzimmer einzieht und Freude mitbringt, keine Angst. Magda Hassan (Text), Raffaela Schäbitz (Illustration): „Was zählt bist Du“, Edition 5Haus, Wien, 18 Euro, 32 Seiten, ab 5 Jahre, mit Gepardenmaske zum Selberbasteln
Ein Rotkehlchen, fünf Sittiche, ein Schwan, ein Pinguin, zwei Tauben, ein Reiher, eine Ente, drei Elstern und „eine äußerst schüchterne Eule“ sind in dieser humorvollen „Seek & Find“-Story des britischen Designers Rob Biddulpf versteckt. Er berichtet vom äußerst witzig gezeichneten Mob Jupp Schlabberwitz, der mit seinem „Hausmensch“ Robin zusammenlebt: „Ich mag meinen Menschen, der lieb ist und treu. Doch manches Mal denk’ ich: Noch besser wär’n zwei!“ Entlang dieser einfachen Umkehrung der Verhältnisse folgen wir einer Geschichte, in der Mops Schlabberwitz beim Gassigehen plötzlich allein in der Wildnis hockt, weil ihm der Hausmensch abhandengekommen ist – sodass er ihn während einer kleinen Hundeodyssee zu suchen muss. Diese Geschichte lebt von ihren liebevoll gezeichneten Figuren – und von der schüchternen Eule, nach der man länger Ausschau halten muss als vermutet. Rob Biddulph (Text + Illustration): „Hundsallein. Wie mein Hausmensch weglief“, aus dem Englischen von Steffen Jacobs, Diogenes, 32 Seiten, 16 Euro
Angesichts der derzeit frühlingshaften Temperaturen braucht es Bilderbücher wie „Der kälteste Winter“, um an die üblichen klimatischen Verhältnisse eines Jahreswechsels erinnert zu werden. Im Düsseldorfer Karl Rauch-Verlag, der 2023 sein hundertjähriges Jubiläum feiert, erzählt Tine Mortier von einem kleinen Jungen, der von Angstattacken heimgesucht wird und seiner Empfindung kein Ventil geben kann. „Noch fester als eine Zunge an einem Eiswürfel klebten seine Füße am Boden. Stocksteif stand er da. Das Einzige, was sich bewegte, waren die Atemwolken, die aus seinem Mund kamen.“ Im Verlauf weniger Tage beobachtet der innerlich beschädigte, dieser durch seine Angst sensibilisierte Junge die erstarrte Welt rings um ihn – und er hört genau hin, auf das „Fffft!“ einer Kälte, die mit eisigen Pfeilen auf ihn zielt, auf das „Wusch. Wusch“ eines Stocks, der durch ein Brennesselbeet streicht, auf das Ticken der Uhr daheim, wo der Junge augenscheinlich isoliert mit einem sehr alten Mann zusammenlebt. „Der alte Mann war vergesslich. Manchmal verwechselte er ein Jahr mit dem anderen. Oder ein Kind mit dem anderen. Außerdem übertrieb er wie alle alten Menschen gern. Vor allem, wenn es um extreme Temperaturen ging, um ausgestorbene Tierarten oder um gute Noten.“ Wie eingefroren erscheinen die collageartigen Illustrationen des Belgiers Alain Verster, mit denen nicht nur die Geschichte einer erstarrten Welt, sondern auch die eines belasteten Herzen erzählt wird – bevor endlich wieder ein Licht ins Leben des Jungen strahlt und frühlingsnahe Hoffnung dieses poetische Buch versöhnlich enden lässt. Tine Mortier (Text), Alain Verster (Illustration): „Der kälteste Winter“, aus dem Niederländischen von Christiane Sixtus, Karl Rauch, 68 Seiten, 20 Euro, ab 8 Jahre