Lesende Affen, ein drachenbesessener Mann, ein ausgegrenztes Flickengespenst und der beeindruckende Weg des großen Komponisten Arvo Pärt begeistern in diesem Advent mit den schönsten Dezember-Bilderbüchern.
Immer wieder begleiten Kindergeschichten die Identitätsbildung der „Neuankömmlinge in unserer Gesellschaft“ (Niklas Luhmann in „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“). Die geglückte Unterscheidung zwischen dem Ich und den Anderen ist ein faszinierender Entwicklungsschritt – weil im Idealfall ein Individuum dasteht und sagt: „Aber so bin ich“. Die Geschichte von Luca Tortolini ist an unsere gegenwärtige Instagram- und Celebritykultur anschlussfähig, denn sie berichtet von einem sehr erfolgreichen Affen (vermutlich King-Kong-Darsteller), dessen größter Wunsch ist, einfach nackt herumzulaufen. „Doch das geht nicht“, denn wie ebenfalls Luhmann beschreibt, hat sich das Erziehungssystem ausdifferenziert, um die sogenannte „Denaturierung“ besagter Neuankömmlinge in unserer Gesellschaft zu erlangen. Und diese Denaturierung wird nun zum Problem.
Der Clou dieses Bilderbuchs ist, dass die Schwierigkeiten, die einhergehen mit der humanen Adolszenz nicht anhand eines Kindes vorgestellt werden, sondern stattdessen der stressige Alltag eines Erwachsenen gezeigt wird. „Ich darf nicht essen, was ich möchte. Ich darf nicht sprechen, wie und wann er mir passt. Ich darf nicht anziehen, was mir gefällt. Ich muss bei allem, was ich tue, aufpassen.“ Dieser Affe muss sich beherrschen: „Weil überall Fotografen und Journalisten auf der Lauer liegen.“ So werden spielerisch die Herausforderungen des Zivilisationsprozesses gezeigt, der Gegensatz zwischen Kultur und Natur – mit einem beide versöhnenden Schlussbild; das an dieser Stelle nicht verraten wird. / Luca Tortolini (Text), Marco Somà (Illustration): „Aber so bin ich“, aus dem Italienischen von Christel Rech-Simon, Carl Auer, 38 Seiten, 19,95 Euro, ab 3 Jahren
Auch „Das kleine Flickengespenst“ erzählt vom Anderssein. Es erzählt von Anderssein entlang der zunächst deprimierten Geschichte eines kleinen Gespenstes, das aus einem schweren Stoff besteht und sich deshalb nicht so einfach durch die Luft bewegen kann wie seine Eltern. Die „flogen hoch und schnell und sausten und wirbelten über den Himmel. Sie konnten sogar auf Böden reiten und dann mit einem ZISCH zurück auf den Boden huschen, als glitten sie eine unsichtbare Rutsche hinunter.“ Alle anderen Gespenster bestehen in dieser Geschichte aus einem großen Laken. Doch das kleine, von den anderen „Fetzen“ getaufte Flickengespenst ist ein Stückwerk – und wir deshalb ausgegrenzt. Selbstverständlich, das ist die übliche Moral von Kindergeschichten dieser Art, findet das kleine Ding seine Bestimmung, seinen Ort und wird angenommen in der Weise, die Kindern ein Gefühl dafür gibt, in welcher Weise auch sie die Abwertungen der Anderen möglicherweise ignorieren und stattdessen darauf vertrauen können, dass es nicht an Ihnen liegt, an ihrem So-Sein, sondern möglicherweise an den anderen, wenn sie nicht angenommen, wenn sie nicht wertgeschätzt werden. So ist diese kleine Fabel eine liebevolle Übung in Resilienz. / Riel Nason (Text), Byron Eggenschwiler (Illustration): „Das kleine Flickengespenst“, aus dem Englischen von Katharina Naumann, Atrium, 48 Seiten, 13 Euro, ab 4 Jahren
Hochgelobt wurde in diesem Jahr die bereits 2018 in Estland, nun im Leipziger Verlag Voland & Quist erschienene Graphic Novel, die das Leben des estnischen Komponisten Arvo Pärt vorstellt. Erzählt wird, wie der 1935 geborene Arvo Pärt schon als Kind die Musik entdeckt, während 1944 die Russen halb Tallinn zerbomben, wie ihn das Radio früh vertraut macht mit den klassischen Werken anderer Komponisten, wie er sich selbst lustvoll erlaubt, Instrumente auf unkonventionelle Weise zu spielen, wie ihn Klaviere geradezu magisch anziehen, er jede freie Minute bereits als Schüler nutzt, um seine Kunst weiter und tiefer zu entwickeln, sogar jeden Tag den Kindergarten besucht, in dem seine Mutter arbeitet, weil er dort während der Musikstunde am Flügel sitzen kann. Auch Arvo Pärt ist einer der Anderen, Herausgehobenen, der unbeirrt chaotischer Zeitläufte an der künstlerischen Verfeinerung zahlreicher Sparten arbeitet – und dem Bemalen von Töpfen die gleiche Achtsamkeit entgegenbringt wie seinen Kompositionen. Pärt versteht augenscheinlich das Leben an sich – im durchaus Goethianische Sinne – als Kunstwerk, und steigt so zu einer der bedeutendsten Komponisten Neuer Musik auf. Der estinische Comickünstler Joonas Sildre zeichnet hier einen stets naiv-verwundert auf die Welt blickenden Künstler, bei dem „Zwischen den Tönen“ ein weiter Raum der selbstverwirklichenden Ausdruckskraft spürbar ist. / Joonas Sildre: „Zwischen zwei Tönen. Aus dem Leben des Arvo Pärt“, aus dem Estnischen von Maximilian Murmann, Voland & Quist, 228 Seiten, 28 Euro
Ebenso rätselhaft wie konsequent ist diese Geschichte um „Herr Lóng“, der im Jahr des Drachen geboren wurde (mehr zu asiatischen Kalendern hier) und der noch im Erwachsenenalter auf diese Fabelwesen fixiert ist. „In der Wiege schlief Herr Lóng unter einer Drachendecke und mit einem Drachenschnuller im Mund. Er aß von einem Drachentellerchen. ‚Weiteressen’, sagte seine Mutter immer, ‚bis du den Drachen siehst.’“ Aufgrund dieser frühkindlichen Prägung wird Herr Lóng, der glaubt, durch seine Adern fließe Drachenblut, später in einem Haus wohnen, das einem Drachen nachgebildet ist: „Sein Bett stand im Herzen, im Schwanz lagerten die Garten- und Fluggeräte“ – und wie in allen religiösen determinierten Gesellschaften, so entsteht auch in der hier vorgestellten ein Wahn, der sich auf einen spezifischen Mythos richtet. Bekanntlich zeigen sich Psychosen in katholischen Gegenden oft durch vermeintliche Marienerscheinungen und Besessenheitsphantasien, während sich die Krankheit in säkularisierten Gesellschaften eher auf einen Verfolgungswahn, auf eine Angst vor realen Menschen und staatlichen Institutionen richtet. In dieser Geschichte wird Herr Lóng irgendwann vom Drachen heimgesucht, und hier endet bereits dieses monochrom gestaltete Bilderbuch, das abschließend, wenn der Drache fortfliegt quasi aus dem Nichts heraus fragt: „Bedeutete das Glück?“ Eine schöne Möglichkeit, Kindern ein Gefühl von Rätselhaftigkeit vorzustellen. Diese Geschichte kommt ohne Antworten aus. / Annemarie van Haeringen: „Der Tag, an dem der Drache verschwand“, aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4 Jahre