Die Erinnerung an ein ukrainisches Mädchen, eine Band, die keiner kennt, ein allesfressendes Schlupp-Wesen, ein reiselustiger Löwe und die beiden ungleichen Freunde Schafsmädchen und Wolf geistern durch die schönsten Bilderbücher des Sommermonats August.
Taylor Swift ist in aller Munde, doch für andere Musikerinnen und Musiker bleibt die Arbeitssituation prekär. Auftrittsmöglichkeiten sind seit der Corona-Pandemie zurückgegangen. Freie Musiker im Bereich der Pop-, Rock-, Jazz- und Unterhaltungsmusik verdienten laut Statista 2023 in Deutschland durchschnittlich 1376 Euro (brutto) im Monat, Musiklehrer kamen auf 1208 Euro. Jetzt soll die Umsatzsteuerbefreiung fallen, weniger Menschen könnten sich dann den Unterricht leisten, wie man sich ohnehin kaum noch etwas leisten kann. Nadia Budde, 1976 in Ost-Berlin geboren, stellt eine engagierte, nicht digitale, sondern ganz reale Live-Band vor, die allerdings vollkommen unbekannt ist: vier fabelhafte Außenseiter, halb Tier, halb Mensch: „Zwei Gelbe Augen. Haare wie Gras. Anzug nach Mass. Fell im Gesicht. Kennen wir nicht!“ So eröffnet diese Pop-Erzählung, an Paragraph 6 des Kölschen Grundgesetzes erinnernd: „Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet“.
Echte Individuen kommen hier zusammen, möglicherweise Free Jazzer vielleicht sind sie auch eine experimentelle Industrial-Band, inspiriert von den Einstürzenden Neubauten. Ihre Instrumente erscheinen ungewöhnlich: ein gelber Luftschlauch, eine knöchelhohe Trommel und Stangen mit Knolle, Draht von der Rolle, ein Reise-Synthesizer. Das kann nur schrecklich klingen: „Schiefe Töne, Tempo vertrackt, keiner im Takt, Text ohne Sinn – alle wollen hin.“ Klar und für westliche, Comic sozialisierte Augen vertraut ist wie immer Nadia Buddes Zeichenstil, bunt wie Keith Haring, auch mit den klaren Umrisskanten. Die Band kommt in ein Dorf (es könnte also tatsächlich Köln sein) und muss ein misstrauisches Publikum überzeugen. „Die Band die keiner kennt“ ist ein Buch über den Mut, einfach loszulegen, über Begegnungen mit dem vermeintlich Anderen, wieder klar „auf die 12“ gereimt. Kein Wunder, dass Joachim Ringelnatz Lieblingsdichter dieser weiterhin empfehlenswerten Künstlerin ist. Nadia Budde: „Die Band die keiner kennt“, Peter Hammer Verlag, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4 Jahre
Die kanadische Grafikerin Elise Gravel ist in den vergangenen Monaten bekanntgeworden mit ihrer „Pilzparade“ auf der einen, der „Käferkolonne“ auf der anderen Seite – und obschon die 47-Jährige bereits Übersetzungen in 12 Sprachen vorweisen konnte, ist sie erst jetzt auch hierzulande ein Star der Kinderillustratorenszene. Bei Tulipan, Ravensburger und seit einiger Zeit auch bei Jacoby & Stuart hat sie ihre Heimat gefunden – in letzterem Verlagshaus mit hintersinnigen Pappbilderbüchern wie dem gerade erschienenen „Ich habe Hunger“. Das Buch stellt ein gefräßiges, rundgestaltetes Schlupp-Wesen vor, das auf jeder Seite erneut insistiert: „Ich habe immer noch Hunger. Was soll ich essen?“ – um sich sodann herzumachen über: ein Stück Pizza, danach den Teller, den Pizzakarton, das Haus, die Kita, den Berg – bis nur noch die kleinen Leserinnen und Leser übrig sind und das Vieh bekennt: „Jetzt werde ich Dich essen!“ Dieses Buch macht Appetit auf mehr. Elise Gravel: „Ich habe Hunger“, aus dem Französischen von NT Stuart, Jacoby & Stuart, 32 Seiten, 9,50 Euro, ab 0 Jahre.
Illustrator Marco Trevisan (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Designer aus Triest) und „Storytelling Techniques“-Spezialistin Giulia Belloni haben bereits 2011 diese Geschichte im italienischen Original veröffentlicht. Im Hamburger Jumbo-Verlag erscheint diesen Sommer „Zusammen können wir fliegen“, diese aus Zeitungs-, Tapeten- und Geschenkpapierausrissen collagierte Fabel über zwei ungleiche Freunde. Das „Schafsmädchen“ und ihr bester Freund Wolf kommen auf eine naheliegende Kinderidee (wie inspiriert von Theodor Storms „Der kleine Häwelmann“ oder Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf) – sie wollen eine Flugmaschine bauen. Nach Vogelstudien und komplizierten geometrischen Berechnungen entwickeln die kleinen Ingenieure einen Flugkarren: „Sie sammeln Stoffbahnen, Stangen, Schnüre und bauen alles nach Plan zusammen.“ Doch anders als erwartet, zumindest für eine Kindergeschichte, will ihre Erfindung keineswegs abheben. So versuchen sie es mit Luftballons, doch pickende Vögel machen auch diesen Versuch zunichte. Dann haben sie einen letzten Plan, der zwar überaus phantastisch ist, doch tatsächlich glückt. Eine doppeldeutige Geschichte über Kreativität und tierischem Erfindungsgeist findet ihre glückliche Erfüllung. Giulia Belloni (Text), Marco Trevisan (Illustration): „Zusammen können wir fliegen“, aus dem Italienischen von Romy Bouché, Jumbo, 32 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahre
In ihrer Freizeit zeichnet die dreifache Mutter Kathrin Frank Ausmalbilder für ihre Kinder. Alle anderen können das bereits kolorierte Abenteuerbuch „Die große Reise“ anschauen, eine Geschichte, die fern an Janoschs „Oh, wie schön ist Panama“ erinnert. Die beinahe eindimensional wirkenden bunten Illustrationen erzählen von Lui dem Löwen, der einsam in der Savanne ruht und Sehnsucht nach einem Gefährten verspürt: „Eines Tages macht er sich auf die Reise, um einen Freund zu finden. Am großen, weiten Fluss steigt er in ein Boot und fährt los. Lui aber bemerkt nicht, dass sich Oscar, das Borstenhörnchen, hinter ihm ins Boot geschlichen hat.“ Er geht auf Grand Tour, begegnet fremden Tieren, kann sich aber mit keinem anfreunden. „Immer hat er die Küste im Blick, um zu sehen, ob er jemand Neues entdeckt. Vor lauter Suchen und Staunen, merkt er jedoch rein gar nichts von seinem blinden Passagier.“ Doch dann zieht ein Sturm auf und zwei so lang von ihrer unerfüllten Sehnsucht erfassten Lebewesen finden in großer Not zueinander. Kathrin Frank: „Die große Reise“, Bohem, 48 Seiten, 18,50 Euro, ab 3 Jahre
Wenn die alte Frau träumt, liegt ein Mädchen auf ihrer Bettdecke, am Fußende zusammengerollt, als eine Erinnerung, die bleibt – solange Helga Neumeyer lebt, jene Weltkriegszeitzeugin, die ihre lang zurückliegende Freundschaft mit einem ukrainischen Zwangsarbeiterkind erzählt. Es geht um Anna, an die kein Grab, kein Gedenkstein, kein Trauergottesdienst erinnert. Anna lebt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs auf einem Bauernhof. Dorthin hat sich die Erzählerin geflüchtet, zusammen mit ihrer Mutter. Sie ist ein Kind. Sie will spielen. „Ich wäre gern ein Vogel, dann könnte ich mich im Baum verstecken. Bomben fallen nicht auf Bäume. Und auch nicht auf meinen Papa. Ich muss nur hoch genug schaukeln.“ Dieses magische Denken bleibt erfolglos. Der Vater wird von der Front niemals zurückkehren. Einziger Trost ist die etwas ältere Ukrainerin Anna. „Anna schenkte mir helle Momente in dieser dunklen Zeit. Sie war mir ein Trost.“ Dann fallen Bomben. Anna stirbt. Wie in Stoff gestickt wirken die monochromen, sich immer wieder bedrohlich verdunkelnden, oft packpapierfarbenen Illustrationen. Die Graphic Novel des Duos Laube/Zaeri macht in gegenwärtigen Zeiten eines erneut auf europäischem Boden stattfindenden Krieges lebenslange Verwundungen spürbar, knapp erzählt, wie rasch dahingezeichnet, als malte jemand Spuren in den Sand: „Über ein halbes Jahrhundert später besuchte ich mit meinen Kindern diesen Hof. Eine dörfliche Idylle. Vieles war noch erhalten (…) doch auf dem Friedhof gab es kein Grab mit Annas Namen(…) Anna war vom Erdboden verschwunden. Das hat mich im Innersten erschüttert. Und so entstand in mir der Wunsch, diesem Mädchen, der einzigen freundlichen und doch so schmerzenden Erinnerung aus diesen dunklen Jahren, ein Denkmal zu setzen.“ Christina Laube (Text), Mehrdad Zaeri (Illustration): „Anna. Was die Zeit nicht heilt“, Fischer/Sauerländer, 16,90 Euro, 64 Seiten, ab 12 Jahre