Die schönsten Bilderbücher dieses Monats bescheren einem kleinen Rüssel das große Abenteuer und einem anderen Elefanten mit „seeeehr langem Rüssel“ ein Gefühl von Zugehörigkeit. Zwei mutige Expediteure reisen zum Nord- und zum Südpol – und verschiedene andere Tiere werden durch eine Knautschmaschine getrieben, damit wir eine neue Vorstellung von unserem „gigantischen Fußabdruck“ bekommen.
Noch als Erwachsener erinnerte sich Siegfried Kracauer, wie ihn Bilderbücher einst in eine Weite versetzten, „die schlechterdings unwirklich war“. So kann man, angelehnt an den großen Soziologen und Geschichtsphilosophen, Kinder- und Jugendbücher leicht in jene unterteilen, die ihr Augenmerk auf die unmittelbare Wirklichkeit richten, im Gegensatz zu anderen, die eine fremde Welt vorstellen. Zu letzteren gehört jenes aus dem Polnischen übersetzte Sachbuch, das eine reale Nordpolexpedition aus dem Jahr 1995 vorstellt und ihren Abenteurer, den 1964 in Danzig geborenen Marek Kamiński, der bereits als Kind von fremden Erdflecken geträumt hat. „Als Teenager las Marek in den Sommerferien nachts Geschichten über die Expeditionen berühmter Reisender und pflückte tagsüber Erdbeeren. Nicht, weil er die so gerne aß – er verkaufte und sparte Geld, um seinen Traum zu verwirklichen: Er wollte mit einem Frachtschiff nach Dänemark fahren. Vorher musste er aber Hunderte Kilo Erdbeeren pflücken, Dutzende Fenster putzen und seine besorgten Eltern davon überzeugen, dass er auf der Fahrt zurechtkommen würde.“
Das Sachbuch „Ins ewige Eis! Nordpol und Südpol in einem Jahr“ holt seine jungen Leserinnen und Leser zunächst in ihrer eigenen Lebenswelt ab, bevor Kamiński und sein Kollege Wojchiech Moskal beinahe fünfzehn Jahre später eine gemeinsame Unternehmung planen. “Die polnische Expedition zum Nordpol 1995 kostete so viel wie damals eine große Eigentumswohnung oder ein Haus in Warschau. Weder Marek noch Wojtek hatten Ersparnisse in dieser Höhe. Und sie brauchten zusätzlich Geld für Spezialausrüstung, Kleidung und Lebensmittel.” – Bereits dieser Abschnitt zeigt, wie bildreich die abenteuerliche Reise erzählt wird. Stück für Stück wandert man in diesem Buch näher Richtung Nord- und Südpol und lernt nicht nur die endlichen, weißen Weiten kennen, sondern auch viel über die Herausforderungen dieser lebensfeindlichen Abenteuer: von Testversuchen im heimischen Garten über das sportliche Trainingsprogramm bis zur Zusammenstellung der gerade einmal 200 Kilogramm wiegenden Ausrüstung, darunter Funkgeräte, eine Reiseapotheke und hinreichend Pemmikan, “eine Mischung aus Fett, getrocknetem Fleisch, Gemüse und Gewürzen. Lässt sich zu Mahlzeiten hinzufügen oder separat verzehren.“
Reich ist die Varianz an Text- und Bildarten dieses Expeditionsbuchs, das die Weite der Polarlandschaft mit großzügigen Weißflächen nachbildet, dazu kontrastierend eine tiefblaue Farbe verwendet, mit der schlagartig Polarnacht herrscht. Seltener ist die Verwendung eines warmen Orange, das daran erinnert, was Marek Kamiński und Wojchiech Moskal entbehrten auf ihrer mehrwöchigen, von zahlreichen Gefahren begleiteten Nordpol-Expedition. “Hat man Zahnschmerzen, geht man normalerweise zum Zahnarzt. Wojteks Zahn begann allerdings mitten in der Arktis zu schmerzen. Selbst, wenn sein Begleiter Zahnarzt gewesen wäre, hätte er ihm ohne Spezialwerkzeug nicht helfen können. Also sperrte Wojtek den Mund weit auf und zog den Zahn mithilfe einer Multitool-Zange, einem Mehrzweckwerkzeug, einfach heraus. Der Weg zum Pol war wichtiger als ein schönes Lächeln.“ – Szenenillustrationen folgen auf Graphic-Novel-Elemente. Landkarten und detailgetreue Abbildungen einzelner Ausrüstungsgegenstände wechseln nahezu filmisch in diesem Abenteuerbuch, das ebenso erhellend wie klar die Komplexität der 1995 geglückten Nord- und Südpolexpeditionen nachzeichnet. „Ins ewige Eis!“ ist ein herausgehobenes Beispiel jener Biographien für junge Leserinnen und Leser, die in unserer Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen – von der weltweit erfolgreichen „Little People, Big Dreams“-Reihe des Inselverlages über Peter Sís’ Holocaust-Buch „Nicky & Vera“ bis zu Megan Stines „Wer war Marie Curie?“. “Ins ewige Eis“ ist eine graphische Expedition, die Leserinnen und Leser ab dem zehnten Lebensjahr auf eine gefährliche Reise mitnimmt, auf eine Expedition, die immer wieder das Blut in den Adern gefrieren lässt und mit Marek Kamiński eine Identifikationsfigur vorstellt, die zeigt, wie Kinderträume wahr werden – mit Planung, Geduld und einer hinreichenden Menge Pemmikan. Agata Loth-Ignaciuk, Bartlomiej Ignaciuk: „Ins ewige Eis! Nordpol und Südpol in einem Jahr“, aus dem Polnischen von Dorothea Traupe, Gerstenberg, 96 Seiten, 18 Euro, ab 10 Jahren
Häufig vergessen wir, dass unsere Vorstellungen von „Normalität“ lediglich in gesellschaftlichen Verabredungen verborgen sind, und dass eben diese Vorstellungen oft im Widerstreit zum Natürlichen stehen, woran uns wiederum Kinder erinnern, die erst über Versuch und Irrtum, über den Weg der Erziehung erfahren, welche Verabredungen gültig sind. Normal ist das nicht. Die spanische Kinderbuchautorin Mar Pavón und die französische Illustratorin Laure du Faÿ stellen einen Elefanten vor, der einen zunächst unnormal erscheinenden, „seeeehr langen Rüssel“ hat. Doch ihm gelingt, anderen Tieren zu helfen. Ein alter Affe gelangt über den Rüssel dennoch auf seinen Baum gelangt. Die kleine Antilope schlummert auf dem Rüssel liegend, als sei er eine Hängematte. „Das Zebra hängt seine Streifen zum Trocknen auf“. Wenn die Giraffe friert, so bietet dieser seltsame Elefant seinen „seeeehr langen Rüssel als Halswärmer an. „Fast alle Tiere mögen den Elefanten, weil er allen hilft. Nur das Nilpferd lästert aus seinem Tümpel heraus: „Das ist nicht normal!“ Doch selbstverständlich wird auch dieses Tier bald erfahren, dass, was er als unnormal ablehnt, auch ihm von Nutzen sein kann – und vielleicht erfahren so nicht nur Kinder, was bereits Martin Buber menschenfreundlich beschrieb als die Achtung des Anderen als Anderen. Mar Pavón (Text), Laure du Faÿ (Illustration): „Ist das Normal?“, aus dem Spanischen von Eva Roth, Atlantis, 48 Seiten, 18 Euro, ab 3 Jahre
Diesem Buch erhöht die Vorstellungskraft. Die Brüder Rob und Tom Sears haben bereits viele Projekte umgesetzt – Zooausstellungen, Eiswagendesigns, Sitcoms. Jetzt übersetzen sie die unfassbare Zahl von fast acht Milliarden Erdbewohnern in eine nachvollziehbare Größe. Unser Gehirn hat sich seit der Steinzeit nicht ausreichend weit entwickelt, um riesige Zahlen realistisch vergleichen zu können. Acht Milliarden klingen viel – „andererseits hat man berechnet, dass wir uns auf einer Fläche von der Größe des Großraums London drängen könnten, wenn sich die gesamte Menschheit an einem Ort versammeln würde.“ Die Sears-Brüder erfinden eine „Knautsch-Maschine“. Diese kann die Masse aller Menschen zu einem drei Kilometer hohen und 390 Milliarden Tonnen schweren Mega-Menschen formen dessen Auge so groß ist, wie ein Fußballfeld und „mit so langen Beinen, könnten wir in nur drei Stunden 40.000 Kilometer joggen – einmal rund um die Erde. Jeder donnernde Schritt erzeugt ein Erdbeben, das auf der Richterskala etwa die Stärke 7 erreicht.“
Ein maßstabsgetreues Mega-Haar füllt eine Doppelseite, und wir erfahren, dass ein Mega-Pinkelstrahl aller Menschen die Kanäle von Venedig füllen würde. „Die herabstürzenden Wassermassen wären größer und mächtiger als der Salto Ángel in Venezuela, der mit 979 Metern der höchste Wasserfall der Welt ist.“ Das Knautsch-Experiment wird mit verschiedenen Tieren und Nahrungsmitteln durchgespielt, um so zu zeigen, wieviel mächtiger die Menschheit im Verhältnis zu anderen Lebewesen ist, und welche Kosten durch unsere Existenz entstehen. So wird bildhaft deutlich, welche Bedrohung, aber auch welche Ressource unsere Spezies ist – und welche Verantwortung aus unserer Übergröße erwächst. Ein interessanter, aufgeweckter Ritt, bevor die Menschheit am Ende dieses klugen Experiments „entknautscht“ wird: „Fühlt sich noch jemand klein?“ – „Ja, aber auch … als Teil von etwas Größerem.“ Rob Sears, Tom Seras: „Unser gigantischer Fußabdruck: Acht Milliarden Menschen – unsere größte Gefahr und unsere größte Hoffnung“, aus dem Englischen von Saskia Heintz, Hanser, 96 Seiten, ab 8 Jahre
Legion sind jene Kinderbücher, die einen Elefanten als Hauptfigur vorstellen. Die gegenwärtig größten Landtiere haben mindestens seit David McGees „Elmar“ von 1968 und spätestens seit der 1977 aufgelegten Hörspielreihe „Benjamin Blümchen“ ihren festen Platz in den Kinderzimmern. Ein weiteres Rüsselbuch kommt nun von Steve Mall, das von Theodors aufregendem Geburtstag berichtet. Der kleine Elefant bekommt eine viel zu große Jacke, ist traurig, weil er sich eigentlich riesig fühlt – und fährt mit seinem Vater in die Stadt, um dem Schneider einen Besuch abzustatten. „Theodor fand, dass das nach einer sehr erwachsenen Sache klang, und nickte glücklich.“ In mehreren Szenen wird gezeigt, wie das kleine Tier zwischen Kind und Erwachsensein schwankt: „Theodor betrachtete sein Busticket. Nur der halbe Preis, aber immerhin, dachte er.“ Alles ist überdimensioniert, der Eisbecher, das Großstadttreiben, das erwachsene Leben. Doch im Lauf des Tages wird Theodor erkennen, dass auch die, die ihm viel zu groß erscheinen, ebenso klein waren wie er. „Auf der Eisbahn war es wunderschön. Sie blieben, bis die Sonne unterging. Und die Schlittschuhe? Die passten wie angegossen.“ Steve Mall: „Kleiner Rüssel, großer Tag“, aus dem Englischen von Birte Spreng, Oetinger, 32 Seiten, ab 4 Jahre