Es geht in den Wald, mit einem Such- und Bestimmungsbuch aus dem Hause Gerstenberg. Rotkäppchen, Pinocchio und die Bremer Stadtmusikanten werden aufs Wesentliche reduziert für kleine Kinder – und wenn sie doch Angst haben, helfen Nanna Neßhöver und Eleanor Sommer. Außerdem gibt es eines der größten Bilderbücher mit Rébecca Dautremes „Eine winzig kleine Sekunde“.
Bereits Søren Kierkegaard hat herausgearbeitet, in welcher Weise sich die Angst des Kindes von der Angst des Erwachsenen unterscheidet. Während sich die Kleinsten vorm Tod fürchten, aber beispielsweise keine Idee davon haben, was es bedeutet, nicht in Gott zu sein, ist es bei den Älteren umgekehrt. Der erwachsene Mensch sollte weniger den Tod fürchten, vielmehr, dass er nicht in der Liebe des Schöpfers geborgen ist. Die Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Angst sind in den folgende knapp 180 Jahren hinlänglich untersucht worden – und auf diese Untersuchungen baut dieses gerade bei Carlsen erschienen Kinderbuch auf, das mit einem Nachwort der Entwicklungspsychologin Martina Stotz abschließt. Dort wird auf zwei Seiten erklärt, dass Kinder zunächst lernen „ihre Angst im Körper wahrzunehmen und körperliche Veränderungen zu erkennen“ – um daran anschließend verschiedene Strategien gegen die Angst vorzustellen.
Die vorangestellte Bildgeschichte soll Eltern helfen, mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen. Das Murmeltier Mumm entschlüpft dem heimischen Bau, ist plötzlich im Hellen und Warmen und bemerkt, dass seine Tastenhaare zittern. Mumm hat Angst: „Denn er war ganz allein.“ Trost findet er bei anderen Tieren, die zeigen, wie sie mit Angst umgehen. So sagt der Mauerläufer: „Wenn meine Angst zu groß wird, denke ich an einen schönen Ort.“ Durch verschiedenen Übungen wie das Abzählen zahlreicher Mäuschen erfahren Kinder spielerisch, dass es zahlreiche Strategien gibt, um Angst zu begegnen, Mumm wird zur Identifikationsfigur in einem wichtigen, kindgerechten Buch, das Teil einer ganzen Reihe ist: auch erhältlich als Hörbuch im Trio mit zwei anschließenden Veröffentlichungen, die sich einmal mit Wut, ein anderes Mal mit Traurigkeit beschäftigen. Nanna Neßhöver (Autor), Eleanor Sommer (Illustration): „Wenn ich ängstlich bin“, Carlsen, 40 Seiten, 15 Euro, ab 3 Jahre
Die Arbeit an Mythos und Märchen gehört zu den gängigsten schriftstellerischen Tätigkeiten. Neben opulenten Neu- und Umschreibungen gibt es Reduktionsprojekte, wie die Insel-Reihe des Illustrators Attilio Cassinelli, der seit über 40 Jahren Kinderbücher gestaltet – in seiner Heimat Italien längst Klassiker. Auf Deutsch übersetzt sind nun „Pinocchio“ (Original 2020), „Rotkäppchen“ und „Die Bremer Stadtmusikanten“ (2017), die sich nicht nur durch eine markante Umrisslinie auszeichnen, sondern auch durch ihre sprachliche Beschränkung, der es gelingt etwas je Typisches herauszuarbeiten. Gleichzeitig werden die brutalen Anteile der der Geschichten durch geschickt illustrierende Lösungen aufgehoben, sodass diese kleinen Pappbände tatsächlich für Kleinkinder geeignet sind. – Im Herbst geht der Reigen weiter, dann mit „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, „Die drei kleinen Schweinchen“ und „Goldlöckchen“. Attilio Cassinelli: „Pinocchio“, „Rotkäppchen“ und „Die Bremer Stadtmusikanten“, aus dem Italienischen von Vivien Danne, je 28 Seiten, 9,95 Euro, bis 3 Jahre
Zu Ostern gab es Hasen (und andere Tiere) von der französischen Schriftstellerin Rébecca Dautremer, die das Wimmelbuch-Prinzip mit einer naheliegenden Idee kombiniert. Hier gibt es nur ein Bild, das allerdings ausgeklappt 42 Zentimeter hoch und beeindruckende 2,20 Meter lang ist, Es zeigt eine Stadtszene mit mehreren hundert Tieren, deren Geschichte in einem separaten Heft erzählt wird – was sie denken und fühlen in dieser einen hier dargestellten Sekunde. „Denn hast du daran je gedacht? Wenn du in jeder Sekunde, die du selbst lebst, dein schlagendes Herz, die Atemluft in der Nase, das Gewicht deines Körpers auf dem Boden, das Licht vor deinen Augen spürst, wenn du im selben Moment an die unzähligen Personen denkst, die um dich herum leben und atmen, an die, die nah und fern sind, an die, die du kennst, und andere, die du nicht kennst, an die, die glücklich, unglücklich, reich oder arm, unter der Sonne oder in der Kälte sind (…) dann wird dir vielleicht ganz schwindelig, so wie mit…“ Man muss unweigerlich an Ludwig Wittgenstein denken, der bemerkt hat, dass sich die Welt des Glücklichen von der des Unglücklichen unterscheidet. Das Bild ist objektiv, die einzelnen kleinen Geschichten zeigen im Kontrast den individuellen Blick aus dem Bild auf das Bild – und hier liegt der kleine Konstruktionsfehler dieses schönen, für neugierige Kinder (also alle) staunenswerten Buchs: Die Figuren denken komplette Sätze, die natürlich länger als eine Sekunde dauern. Doch weil diese Sekunde mindestens einen Nachmittag füllt, weil Kinder zu der Geschichte von Rébecca Dautremer ihre eigene Geschichte stellen können, ist „Eine winzig kleine Sekunde“ eine Empfehlung. Rébecca Dautremer: „Eine winzig kleine Sekunde“, aus dem Französischen von Andrea Spingler, Insel Verlag, Berlin, 54 Euro, ab 3 Jahre
Von den vielzahligen Tier- und Pflanzenbestimmungsbüchern ist das niederländische „Wunderwelt Wald“ eines der kreativsten. Es hat zahlreiche, akkurat gezeichnete Suchbilder, die beim genauen Schauen mehr und mehr Details und so die wundersame Welt des Biotops schon vorm Spaziergang erkennen lassen. Die Informationen lassen staunen, überhaupt ist das Staunen herausgehobenes Merkmal dieser Veröffentlichung – denn es richtet sein Augenmerk nicht auf die reine Bestimmung von Natter, Wanze, Robinie. Die kurzen Texte suchen jene Informationen, die Kinder und Jugendliche ebenfalls verblüffen, alles erscheint interessant: wo Wasser gefunden werden kann, dass, wer sich im Winter verirrt, die Innenseite vieler Baumrinden essen kann, dass Käfer die größte Familie auf der Erde bilden, dass Bäume über Pilzfäden mit mehr als hundert anderen Bäumen im Kontakt stehen können (wird später mal wichtig, wenn man sein Augenmerk auf Gilles Deleuze und Félix Guattari richtet). Der Titel des Buchs wird also eingelöst – der Wald steht tatsächlich als Wunderwelt vor einem. Jan Paul Schutten (Autor), Medy Oberendorff (Illustrator): „Wunderwelt Wald“, aus dem Niederländischen von Verena Kiefer, 80 Seiten, 22 Euro, ab 8 Jahre