Seit über einem Jahr gibt es in Deutschland eine neue politische Philosophie. Sie ist schnell. Sehr schnell. Sie ist eine Mischung aus Techno, Terminator und Marx und sie will den Kapitalismus abschaffen.
Ihre Vertreter nennen sich Akzelerationisten. Ihre Philosophie wird mit einem Hashtag ausgeschrieben und heißt: #Akzelerationismus. Das kommt vom Englischen „Acceleration“, übersetzt: Beschleunigung. Und mit dieser Beschleunigung positionieren sich die Akzelerationisten deutlich gegen andere kritische Bewegungen – wie den Nachhaltigkeitspredigern der Ökologie oder den Ostermarschgängern der 68er-Generation. Vordenker der Akzelerationisten ist im deutschsprachigen Raum der Wiener Philosoph Armen Avanessian: „Es ist hierzusagen eine andere Generation, die schreibt, die zum Sprechen gekommen ist und die auch politisch agiert und die nicht mehr so ein Phantasma von 68 und einer sozusagen auf der Straße vorfindbaren Occupy-Gemeinschaft vertritt. Sondern sich konkret für Algorithmen interessiert, für Informationstechnologien. Die Frage nach Rohstoffen, die Frage nach Arbeitszeiten und so weiter. Das heißt, das sind hochkomplexe technologische Fragen, die wir verstehen müssen, um dem Feind, um dem Gegner oder wie auch immer man den Kapitalismus sieht etwas entgegensetzen zu können.“
Ein gern zitiertes Beispiel ist Facebook. Dass die Programm der sozialen Netzwerke alle Nutzer ausspähen, ist bekannt. Darüber regen sich auch viele Menschen auf. Aber es gibt so gut wie niemanden, der diese Programme, gegen die sie sich auflehnen, versteht. In solchen Augenblicken wirkt eine Demonstration auf der Straße gegen die virtuelle Macht von Serverparks hoffnungslos naiv. Proteste helfen nichts. Nur wer weiß, wie ein Programm funktioniert, kann sich im 2015 gegen den Kapitalismus auflehnen – indem er es hackt, umprogrammiert, verändert. Eben daran erinnern die #Akzelerationisten unentwegt, dass unser aller Leben durch Programme gesteuert sind. Einer ihrer ständigen Begleiter ist SPIEGEL-Feuilletonist Georg Diez, der sagt:
„Der Akzelerationismus ist zum ersten Mal – seitdem ich mich erinnern kann – zum ersten Mal seit der Postmoderne, die ja eher was für ältere Brüder oder für uns fast die Vätergeneration war, ist für 30- bis 40-Jährige so ein Moment, wo einerseits politisches Denken in der Philosophie formuliert wird und andererseits auch eine mögliche Vision einer politischen Praxis auftaucht, die jenseits dessen ist, was der relativ ermüdeten parlamentarischen Demokratie zur Option steht. Oder die auch weggeht von den politischen Ritualen des Protestierens, des Kritisierens, des Lamentierens. Und die relativ direkt die Gegenwart ansteuert. Mit hoher Geschwindigkeit ansteuert. Und manchmal auch übersteuert. Das ist mal eine performative Provokation gewesen, die mich fasziniert hat und viele Kollegen auch, die dann sehr schnell drauf angesprungen sind. Das ist eine erfolgreiche, medial sehr erfolgreiche philosophische Richtung, würde ich sagen.“
Der Akzelerationimus ist in der Tat sehr erfolgreich. Verschiedene Denker, die sich unter dem Label des Akzelerationismus versammeln stürmen gerade die Kunsthochschulen, Feuilletons und philosophischen Bestsellerlisten. Sie sprechen über Science-Fiction, Automatisierung, Algorithmen und Horrorfilme. Sie machen immer und immer wieder darauf aufmerksam: Wir müssen die Technik verstehen. Nicht ablehnen. Um gegen sie zu opponieren. Das ist das Denken von Karl Marx im Jahr 2015. Marx hatte im 19. Jahrhundert erkannt, dass Herrschaft im Kapitalismus von denen ausgeht, die Maschinen nicht nur besitzen, sondern sie auch beherrschen. Und die Maschinen des 21. Jahrhunderts sind: Computer, Algorithmen, Programme. Und in diesen Programmen stecken Unterdrückungsmechanismen unterschiedlichster Art. Deshalb beschäftigt sich diese Theorie immer mehr mit der Verbindung von Technik, Beschleunigung und Feminismus. Armen Avanessian:
„Akzelerationistisch gesehen würde ich sagen: Die entscheidende Aufgabe ist zu sehen – in wie weit sind bestimmte Genderrollen, in wie weit sind patriarchale Strukturen in den Technologien; im Englischen sagt man embedded; sozusagen eingearbeitet oder eingelassen. Das müsste man verstehen und dort dann auf einer interessanten Ebene anzusetzen und nicht nur auf der sprachsymbolischen Ebene.“
Die Welt in Programmiersprache lesen: Das können die Beschleunigungsdenker des Akzelerationismus. Dabei geht es nicht nur um Computercodes. Sondern auch um die vielen anderen Programme unserer Gegenwart: Beispielsweise um das rechnerisch-kühle System der Troika in Griechenland. Diese Kooperation von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission agiert ohne parlamentarische Kontrollen. Kaum jemand versteht, nach welchem Programm die entsandten Troika-Mitglieder handeln. Gleiches gilt für die Codes der Gentechnik: Es hilft nicht, Biogemüse einzukaufen und aufs Land zu ziehen. Gentechnik kann nur von jenen verhindert oder gelenkt werden, die sie verstehen – nicht von jenen, die sich vor ihre verstecken. Es stimmt: Die Welt ist komplex. Und der Kapitalismus ist kalt. Es ist klar, dass viele Menschen ihr Leben lieber vereinfachen wollen. Und dass sie gegen die Kälte des Kapitalismus den warmen Kamin auf dem Land eintauschen. Nur: Ändern werden sie damit nichts. Veränderung kommt durch schnelles Denken, technisches Know-How und absolute Gegenwärtigkeit: Sagen die #Akzelerationisten. Und damit bringen sie Neo-Liberale wie Alt-68er, Öko-Kritiker und Silicon-Valley-Jünger gegen sich auf.