Wenn ein Debüt in mehr als 30 Sprachen übersetzt wird, lässt jeder Schriftsteller die Champagnerkorken knallen. Ordentlich geknallt haben dürfte es deshalb bei der 26-jährigen Amerikanerin Téa Obreht. Ihr Roman „Die Tigerfrau“ elektrisiert gerade die halbe Welt. Warum?
Wie entwickelt sich eine bildschöne jüdische Frau zur Top-Spionin des israelischen Auslandgeheimdienstes Mossad? Weshalb wird ein sanfter Palästinenser, der Frauen mit seinem Charme becirct, zu einem mordenden „Freiheitskämpfer“? Moti Kfir, der Sylvia Rafael 1962 für den Mossad anwarb, erinnert sich an eine Heldin Israels – die zu den unbarmherzigsten Rächerinnen palästinensischer Terroranschläge wurde. Gleichzeitig versucht er, die Beweggründe ihres stärksten Widersachers Ali Salameh herauszufinden. Er war Anführer des „Schwarzen Septembers“, einer Organisation, die Flugzeuge in die Luft sprengte und 1972 Israelis aus dem Olympischen Dorf in München entführte. Mit literarischen Stilmitteln nähert sich dieses Buch zwei geheimnisvollen Kämpfern der 1960er und 70er Jahre, Es gibt Insidereinblicke in die Ausbildung von Mossad-Agenten. Es gibt flirrende Beschreibungen des Nachtlebens von Libanon und Paris. Es gibt Liebesdramen, Schönheitsköniginnen, Todesschwadronen. Dieses Buch reist in unterschiedliche Krisengebiete. Ständig detonieren Bomben. Man wechselt aus Wüsten zu Vernissagen. Sylvia Rafael baut Tarngeschichten auf, verführt Männer wie die lockende Schlange im Paradies, während ihr Feind genau das Gleiche mit palästinensischen Frauen versucht. Die Story erinnert szenenweise an „Lohn der Angst“, den Film mit Yves Montand. Und was entgegnet Sylvia Rafael? „Es war nur ein Film, das hier ist gnadenlose Realität.“ (Moti Kfir, Ram Oren: „Sylvia Rafael. Mossad Agentin“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Arche, 336 Seiten, 21,95 Euro)
Sich selbst erschießen. In einer ewigen Zeitschleife mit der Lieblings-Ex steckenbleiben. Alternative Enden privater Katastrophen wahr werden lassen. All das gelingt in der Science Fiction-Welt von Charles Yu. Sein gleichnamiger Held ist Zeitmaschinenreparateur im erfundenen Kleinstuniversum 31. Seine Kunden sind verunglückte Zeitmaschinennutzer, erfundene Figuren wie er, die auf dem Weg zum Wunschmoment ihres Lebens steckengeblieben sind. Charles‘ wahre Mission aber heisst: Den eigenen Vater aufspüren, der vor Jahren während der Konstruktion des Zeitmaschinenprototyps verschwunden ist. Das sehr technische „Handbuch für Zeitreisende“ ist eine Jagd über verschiedenen Zeitebenen, unterschiedliche Genres, bestückt mit halb fertigen Helden, paradoxen Plots und depressiven Sexbods – gelistet in den „Time’s Top 10 Fiction Books 2010“. (Charles Yu: „Handbuch für Zeitreisende“, übersetzt von Peter Robert, Rowohlt, 272 Seiten, 13,95 Euro)
Was würde passieren, wenn Google, Facebook und Twitter gemeinsam eine Weltrevolution anzetteln würden? In diesem Thriller heisst Google zwar „Toggle“ (englisch für Kippschalter) und das soziale Netzwerk hört auf den Fantasienamen „MyFace“ – aber die Internetmacht ist genauso gigantisch wie bei den realen Vorbildern. Geheimbünde, CIA, russische Oligarchen und Superintelligente kämpfen hier mal mit-, mal gegeneinander, nachdem eine bahnbrechende Information kurz davor steht, die Weltordnung umzustoßen. Durch das groß angelegte Scanprojekt „ToggleBooks“ taucht ein verschollenes Geheimmanuskript aus der Zeit der Europäischen Aufklärung heran. Der Inhalt dieses Buchs, das eigentlich gar nicht existieren darf, führt bald zum ersten Todesopfer („Der Name der Rose“ lässt grüßen). In atemlosen Sprüngen verfolgt man nun den Beginn der vielleicht größten Revolution aller Zeiten. Extrem spannend konstruiert. (Florian Felix Weyh: „Toggle“, Galiani, 440 Seiten, 19,99 Euro)
Zum Abschluss wird das Licht gedimmt mit einem Lesebuch, das die besten Vampirgeschichten präsentiert – Goethe, E.T.A. Hoffmann, Bram Stoker, Arthur Conan Doyle. Die ganzen großen Namen sind dabei. Düster ist diese Auswahl geworden und damit das exakte Gegenstück zum metrosexuellen Edward und Bella-Kitsch aus „Twilight“ oder „House of Night“. Weshalb man auf Exemplare trifft, die sogar Leichen fressen. Nachzehrer heissen die. Es gibt Blattnasen, blutrünstige Fledermäuse, die ihre Artgenossen zerfleischen. Der große Tierforscher Alfred Brehm hat sie beschrieben – in einem Artikel, der selbst 120 Jahre später schauderhaft ist. Es kommen ganz moderne Vampire vor: Zum Beispiel ein Auto, das mit Menschenblut fährt und im Lenker eine kleine Nadel versteckt hat. Und mit dieser Nadel wird der Fahrer langsam ausgesaugt. Nichts für schwache Nerven und schmachtende Schmusekatzen. (Tilman Spreckelsen (Hg.): „Vampire – Das große Lesebuch,“ Fischer, 256 Seiten, 8 Euro)
„Die Tigerfrau“ ist magische Literatur, weil auf 410 Seiten eine phantastische Geschichte über den Balkan, über das ehemalige Jugoslawien erzählt wird – und zwar über eine Zeitspanne von 80 Jahren. Das ist ein komplettes Leben, das Leben eines Chirurgen, der im 2. Weltkrieg groß wird, und als alter Mann den Bürgerkrieg in Jugoslawien überlebt. Der also in einer Zeit lebt, in der der Balkan ein Pulverfass ist. Und: Der Ort merkwürdiger Begegnungen. So trifft der Held dieses Buchs sehr früh einen echten Vampir. Und ab da ist sein Leben vollkommen aus der Spur geraten. Was Autorin Téa Obreht so grandios erzählt, dass „Die Tigerfrau“ schnell Kurs Richtung Weltbestseller aufnimmt. Der Chirurg öffnet sich nach dieser Begegnung den irrealen Phänomenen, den Märchen, Fabeln, Mythen. Das ist Thema des kompletten Romans: was bedeuten Geschichten und Märchen für uns, für unser Leben? Dieser Roman ist eine Märchensammlung. Mit Vampiren, mit Tierkarawanen, die nachts durch Städte streifen. Mit einer Taubstummen, die sich in einen Tiger verliebt. „Die Tigerfrau“ der 26-jährigen Téa Obreht hat Exotik (Balkan), Magie und wirkt wie am Lagerfeuer erzählt. (Téa Obreht: „Die Tigerfrau“, übersetzt von Bettina Abarbanell, Rowohlt, 410 Seiten, 19,95 Euro)
Eine Übersetzerin gab auf, zwei neue mussten übernehmen; das neue Buch von Mark Z. Danielewski ist eine Reizüberflutung mit zirka zwanzig neuen Wörter pro Seite. Es geht um zwei 16-Jährige, die niemals altern und „Forever Young“ von 1863 bis 2063 durch die USA reisen. Sie besuchen Grunge-Konzerte, tanzen zum Swing, haben unfassbar viel Sex und rotieren glutäugig durch ihr junges Leben. Wegen dieses „Rotierens“ heisst das Buch auch „Only Revolutions“. Denn nicht nur die Helden rotieren, sind in Revolution, im ständigen Umlauf. Auch das Buch rotiert wie eine Schallplatte. Die Geschichten der beiden Reisenden fangen sowohl von vorn als auch von hinten an. Die Hälfte des Textes steht also immer auf dem Kopf. Auf jeder Dopelseite gibt es exakt 360 Wörter (das ist die Kreiszahl), jedes „o“ ist farbig markiert und an den Randspalten gibt es Notizen zu den jeweiligen Jahren. Daher verwundert es nicht, dass einem bei diesem Mammutwerk manchmal schwindelig wird – „Only Revolutions“ lesen ist, als setzte man sich eine Disconacht lang auf einen übergroßen Plattenteller. Der Trip ist groß. Schwindelig wird einem aber auch. (Mark Z. Danielewski: „Only Revolutions“, übersetzt von Gerhard Falkner und Nora Matocza, Tropen, 365 Seiten, 24,95 Euro)
Mohammed Hanif aus Pakistan war früher Bomberpilot. Das Zerstörerische ist also teil seines Lebens und deshalb verwundert der Plot seines Romans kaum. Denn er geht schonungslos mit der christlichen Krankenschwester Alice um, die in einem Krankenhaus so lange durch die Mangel ihrer muslimischen Mitarbeiter genommen wird, bis sie als Märtyrerin zum Himmel aufsteigt: Die junge Frau ist hartgesotten. Sie war gerade noch in einer Besserungsanstalt inhaftiert. Sie trägt stets eine Rasierklinge in ihrer Kitteltasche, um zudringlichen Verwandten beim erzwungenen Oralverkehr Einhalt zu gebieten. Sie hat eine große Klappe und gotteslästerliche Gedanken. „Den Hintern in die Höhe zu recken, hat sie noch nie für einen geeigneten Beweis der Frömmigkeit gehalten.“ Mit Einstellungen wie diesen kommt eine Christin in Pakistan eigentlich nicht weit. Streckenweise ahnt man, dass Alice nicht über ihr Leben mit dem „Gentleman-Cop“ und Proll-Bodybuilder Teddy hinauskommt. Bis sie eines Tages ein Marienwunder geschieht und die kleine Krankenschwester von Mutter Maria im Himmel zu sich gerufen wird. „Alice Bhattis Himmlefahrt“ ist eine fernöstliche Mischung aus Bollywood-Komik, „Grey’s Anatomy“ und Polizeiaction. (Mohammed Hanif: „Alice Bhattis Himmelfahrt“, übersetzt von Ursula Gräfe, A1 Verlag, 272 Seiten, 19,90 Euro)
Die Zombies sind unter uns: glaubt man den Ausführungen von Markus Metz und Georg Seeßlen über „Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction“. In teilweise sehr ambitionierter Wissenschaftssprache schreiben die Autoren über Wachkoma-Patienten, Botox-Promis, Leistungssportler mit Beinprothesen, die menschliche Beine funktional in den Schatten stellen. Wird Superman Realität? Werden die Menschen schon bald von höher entwickelter, künstlicher Intelligenz überflügelt? Stammzellen-Forschung, Roboter, die wie Menschen aussehen, Computerprogramme, die bereits „Android“ heissen, Mutanten, Super-Alte, die von Maschinen am Leben erhalten werden – das sind längst keine Themen randständiger Science-Fiction-Romane. Unser Gedächtnis wandert ins Internet ab – diese Vision hatte die Raelianer-Sekte, ein Upload der Gehirndaten, sodass man unsterblich wird. Unsere Moderne ist freaky. Wie gehen wir mit ihr um? Faszinierendes Buch. (Markus Metz, Georg Seeßlen: „Wir Untote“, Matthes & Seitz, 322 Seiten, 26,90 Euro)
Mohammed Hanif aus Pakistan war früher Bomberpilot. Das Zerstörerische ist also Teil seines Lebens und deshalb verwundert der Plot seines Romans kaum. Denn er geht schonungslos mit der christlichen Krankenschwester Alice um, die in einem Krankenhaus so lange durch die Mangel ihrer muslimischen Mitarbeiter genommen wird, bis sie als Märtyrerin zum Himmel aufsteigt: Die junge Frau ist hartgesotten. Sie war gerade noch in einer Besserungsanstalt inhaftiert. Sie trägt stets eine Rasierklinge in ihrer Kitteltasche, um zudringlichen Verwandten beim erzwungenen Oralverkehr Einhalt zu gebieten. Sie hat eine große Klappe und gotteslästerliche Gedanken. „Den Hintern in die Höhe zu recken, hat sie noch nie für einen geeigneten Beweis der Frömmigkeit gehalten.“ Mit Einstellungen wie diesen kommt eine Christin in Pakistan eigentlich nicht weit. Streckenweise ahnt man, dass Alice nicht über ihr Leben mit dem „Gentleman-Cop“ und Proll-Bodybuilder Teddy hinauskommt. Bis sie eines Tages ein Marienwunder geschieht und die kleine Krankenschwester von Mutter Maria im Himmel zu sich gerufen wird. „Alice Bhattis Himmlefahrt“ ist eine fernöstliche Mischung aus Bollywood-Komik, „Grey’s Anatomy“ und Polizeiaction. (Mohammed Hanif: „Alice Bhattis Himmelfahrt“, übersetzt von Ursula Gräfe, A1 Verlag, 272 Seiten, 19,90 Euro)
Rechtzeitig zur Python-Plage in den Everglades kam 2012 T. C. Boyles gewaltiger Tiermordroman “Wenn das Schlachten vorbei ist”. In einer verwickelten Handlung kämpfen Umwelt- und Tierschützer auf mehreren Pazifikinseln gegeneinander. Die eine Gruppe ist angetreten um Schweine, Schafe, Schlangen oder Ratten auszurotten. Auf jeder Insel ist eine andere Tierart in der Überzahl. Die Viecher sind irrtümlich auf die eigentlich geschützten Inseln gelangt. Danach haben sie sich epidemisch vermehrt und bringen seitdem komplette Ökosysteme aus dem Gleichgewicht. Gegen solche Plagen hilft Blutgerinnungshemmer, helfen Jagdstaffeln und Fallen. – Dahinter steckt ein fast romantischer Wunsch: Die Natur soll in einen Urzustand zurückversetzt werden. Aber ist nicht jedes Lebewesen achtenswert? Das wiederum behaupten militante Tierschützer, die mit Guerillamethoden antreten, den staatlich geförderten Ökomördern das Handwerk zu legen. Ab wann spielen wir Gott? Wie weit darf die Liebe zum Tier gehen? Schadet der Mensch, wo er schützen will? T. C. Boyle hat ein mächtiges Thema imposant, smart, unsentimental aufgearbeitet. (T.C. Boyle: “Wenn das Schlachten vorbei ist”, übersetzt von Dirk van Gunsten, Hanser, 464 Seiten, 22,90 / Das gekürzte Hörbuch, gelesen von Jan Josef Liefers, erscheint im Hörverlag)
Laut eigener Angaben ist Thrillerautor Don Winslow mit Mafiagrößen des Patriarca-Syndikats in Rhode Island aufgewachsen, „und seine eigene Großmutter arbeitete Ende der 60er für den berüchtigten Mafiaboss Carlos Marcello, den mutmaßlichen Drahtzieher des Kennedy-Attentats, der den späteren Autor mehrere Male zu sich einlud.“ So steht es hinten in „Die Sprache des Feuers“, einem 1999 erschienene, jetzt ins Deutsche übersetzten Brandthriller. Ausnahmsweise muss kein surfender Detektiv einen Mord in Strandnähe aufklären – wie in so vielen Winslow-Thrillern. Dieses Mal ist der Schadensregulierer Jack Wade an der Reihe (er surft allerdings auch). Nachdem das sündhaft teure Anwesen eines russischen Baukriminellen samt Antiquitätensammlung und Ehefrau Pam in Flammen aufgegangen ist, ermittelt Wade im Dickicht früherer KGB-Agenten, korrupter Mafiachirurgen, bestechlicher Cops und geschmierter Richter. Auf jeder dritten Seite gerät irgendetwas in Brand – Menschen, trockene Rasen, Öllampen, Autos. „Die Sprache des Feuers“ ist tatsächlich ein Hard boiled-Thriller, der in Flammen steht. (Don Winslow: „Die Sprache des Feuers“, übersetzt von Chris Hirte, Suhrkamp, 422 Seiten, 14,99 Euro Das Hörbuch erscheint bei DAV, gelesen von Dietmar Wunder, 6 CDs, 425 min, 19,99 Euro)
Nach „Toggle“ von Florian Felix Weyh kommt nun der zweite Roman über Google binnen weniger Tage. „Toggle“ punktet bereits mit vielen Fachinfos, weil sein Autor als Programmierer arbeitet. „Silicon Jungle“ ist weitaus näher dran. Shumeet Baluja arbeitet seit 2003 als Chefentwickler des Google-Imperiums. Sein Roman beinhaltet, ebenso wie „Toggle“, eine Verschwörungstherorie. Dieses Mal muss ein Praktikant dran glauben. Stephen Torpe wird bei „Ubatoo“ angestellt. Er soll sich als sogenannter „Data Miner“ profilieren. Bei dieser Technik liest man aus riesigen Datenbanken Trends und Muster. Auf diese Weise können Unternehmen noch gezielter ihre Zielgruppe ansprechen: „So machte Ubatoo Geld – indem das Unternehmen seine User verstand und wusste, was ihnen verkauft werden konnte und wie. Trotz der riesigen Zahl von Diensten, die Ubatoo anbot, war es im Kern ein Werbeunternehmen, eine unermüdliche und gnadenlos effiziente Werbemaschine.“ Hat man nur alle E-Mails, Kontobewegungen, Blogeinträge, Seitenaufrufe, Handypositionen zusammen, ist der Kunde gläsern. Man weiß, wie das Bier schmecken muss, das er in zwei Wochen kaufen wird. Man weiß, welche neuen Bücher, Filme, Alben ihm gefallen werden. Amazon arbeitet längst mit diesen Empfehlungslisten. In „Silicon Jungle“ kommt aber jemand auf die Idee, nach diesem Prinzip die Terroristen von morgen aufzuspüren. Und das interessiert eine Menge Leute, nicht nur Heimatschutz und Al Quaida. Eine Hetzjagd beginnt. (Shumeet Baluja: „Silicon Jungle“, übersetzt von Ulrike Wasel, Suhrkamp, 375 Seiten, 14,99 Euro)
Der Hamburger Michael Sonntag hat eine „Nützlichkeitsallergie“. Dem mittelbegabten Held gelingt es nicht, sinnvoll die Woche rumzukriegen. Sein Lebensziel beinhaltet stattdessen, körbeweise Verlagsablehnungen für seine Groschenromanplots zu kassieren. Anstatt zu arbeiten gammelt der Privatgelehrte mit seinen Kumpels „Neunzehn Löcher Joe“ und Zeitungsmessie Nowak ab. Er sinniert über eine „Prominentensamenbank“, trifft sich mit der HIV-infizierten Nora, seiner so genannten „Privathure“ und organisiert Blind Dates im Wartezimmer eines ahnungslosen Allgemeinmediziners. Fun-Punk Rocko Schamoni, als Theaterautor, Comedy-Romancier („Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“) und „Studio Braun“-Telefonstreichaushecker bekannt, inszeniert in seinem neuen Roman einen Gang durchs Verliererleben (Michael Sonntag bescheisst sich selbst beim Hütchenspiel und castet seinen besten Freund Bob über eine Annonce). Diese Type braucht kein Mensch. Allein seine Tipps für einen gelungenen Samstagabend taugen was: Als Vorbereitung immer daran denken, die Magenwände mit alkoholabweisendem Fettfilm zu versehen, anschließend weiter zu machen mit „Badungen und Ölungen“ bis zum Lesen von „Trinkerliteratur“ und abschließender Herrichtung des angemessenen Bekleidungszustandes. Fehlen nur noch „Sonnenlicht, Bewegung und gutes Essen“ – aber dann wäre dieses absurde Buch nur halb so unterhaltsam und bekäme vermutlich auch ein Ablehnungsschreiben. So wird es mit einer Startauflage von 50.000 Exemplaren angekündigt – E-Books nicht mitgerechnet. (Rocko Schamoni: „Tag der geschlossenen Tür“, Piper, 256 Seiten, 16,95 Euro, das Hörbuch (4 CDs) erscheint bei Osterworld Audio)
Onno (53) ist faul wie der Dude aus „The Big Lebowski“, Reality-Soap-Gucker und Mitglied einer Pingpong-Truppe, die sich in der Turnhalle des „Günther Jauch Gymnasiums“ in Hamburg Eppendorf trifft. „In einer Gesellschaft, die nach Leistung bezahlte, war er eigentlich ein Fall für die Organbank.“ Als das Finanzamt eine Nachzahlung androht, wird Onno kurzerhand Privatdetektiv: „Auch wenn er am liebsten nur noch die Sopranos geguckt, auf das nächste Album der White Stripes und den jüngsten Roman jener Westamerikaner gewartet hätte, für die wir beide schwärmten.“ Auf das White Stripes-Album hätte er lange warten können. Die haben sich vor eine Jahr aufgelöst. Deshalb steht dem Auftrag, das untreue Flittchen eines windigen Popmusikers zu beschatten nichts im Weg. Onno ist sehr gemütlich und oft mehr damit beschäftigt, seinen Nikotinspiegel zu kalibrieren, statt den Job anständig abzureißen. Weshalb er mit seiner zugequarzten Schrottkarre auch direkt auffällt, als er von einem Polizisten während der Observation gebeten wird, die Papiere rauszurücken und überhaupt: Den Grund seines Aufenthalts im Edelviertel Hamburgs zu erklären. Was umso schwerer fällt, als klar wird, dass Onno auf seinem 35 Jahre alten Lappen ausschaut wie Massenmörder Charles Manson: „Sie wohnen Stellingstraße 55?“ – „Njorp.“ – „Njorp. Das‘ in Hoheluft, richtig?“ – „Njorp…“ – „Njorp. Und dann fährt ihre Frau zum Frisör bis auf die Uhlenhorst. Mit Ihrem Auto. Mit Ihnen als Beifahrer.“ – „Nu hör’n Sie doch mal mit -, was reiten Sie denn dauernd – sagen sie“, unterbrach Onno sich endgültig, noch lange nicht verzweifelt oder so, nur aufrichtig interessiert: „Ist das verboten, was ich hier tue?“ Was dann kommt ist mehr als ein Krimi: ein Dialogtsunami, Gangsta-Rap (!Liiiebööö – der Same des Hasses“), Assoziationssturm („VORSICHT! IM WINTER NICHT GESTREUT! – Edding Zusatz: Wann denn?) und YouTube-Actionmitschnitt („Alstermonster! Amok-Huene! Real Splatter!“). Der „Irre vom Kiez“, dieser Hells Angels-Typ, um den es hier geht, der hat auf seinen Fäusten links und rechts zwei Worte stehen: ZACK und BUMM. Und das gilt für’s komplette Buch: ZACK und BUMM! Grandios. (Frank Schulz: „Onno Viets und der Irre vom Kiez“, Galiani, 366 Seiten, 19,99 Euro, Hörbuch, u.a. mit Harry Rowohlt, Rocko Schamoni, Sven Regener bei Roof Music)
Manchmal treibt man sich in schmutzigen Ecken rum – und landet dann in Österreich bei Evolver Books. Der Verlag ist eine Sammelgrube des Abwegigen. Das Heftlein „Fleischwölfe / 0 (Null)“ von Guido Rohm wird zusammengefasst als „feinsinnige Demontage des Slasher-Kinos, kombiniert mit dem ultimativen Killer-Frauenbefreiungsroman“. Die angegliederte Netzzeitschrift beschäftigt sich mit Shining-Reportagen, um depressive Horro-Portiers und der aktuelle Evolver-Literaturwettbewerb fragt: „Gibt es im deutschen Sprachraum Autoren, die mumifizierte Untote in ebenso unterhaltsamen wie unprätentiösen Kurzgeschichten zum Leben erwecken können?“ 2012 sind ausserdem die ersten beiden Ausgaben des A5-formatigen Trashmagazins „Super-Pulp“ erschienen. Dieses nach eigenen Angaben „Fachblatt für Pulp-Thriller, Horror und Science Fiction“ kostet schlappe 2,80 Euro. dafür gibt es je Nummer drei Groschenstories und einen ironischen Wissenschaftsaufsatz zum Thema. Wer reinschauen mag: Es wird ein Wiedersehen mit Mr. Dynamit, dem deutschen James Bond. Es gibt eine Retro-Cyberpunktgeschichte, einen Essay über Schundliteratur und sehr viel Weltalltrash. Super Pulp: Sehr krude. Sehr speziell. Aber für Fans des Genres ein echter Tipp.
Der Spanier Javier Marías ist ein Großschriftsteller (in 40 Sprachen übersetzt), Fußballfan (kann die Formation von Real Madrid aus den 60ern im Schlaf aufsagen), König der unbewohnten Karibikinsel Redonda. Ein Besessener. In „Die sterblich Verliebten“ erzählt Marías von Freundschaft, Tod, Intrigen und einem Liebespaar, das leicht unnötig Maria und Javier heisst (wie der Autor eben). Die in den Mittdreißigern stehend Verlagsangestellte Maria beobachtet das Pärchen Luisa und Miguel im Café. Ihrer Meinung nach sind die beiden: das perfekte Paar. Als Miguel stirbt, lernt Maria die Trümmer dieser untergegangenen Beziehung kennen – und Javier, den besten Freund des Toten, mit dem sie eine sexuelle Affaire beginnt. Javier wird aber verdächtigt, seinen Freund Miguel aus Eifersucht getötet zu haben. Und schon ist man in diesem opulenten Buch umzingelt von Gefahren Shakespeare‘schen Ausmaßes. (Javier Marías: „Die sterblich Verliebten“, übersetzt von Susanne Lange, Fischer, 432 Seiten, 19,99 Euro, Hörbuch (560 Min, gelesen von Eva Mattes) bei Argon)
Keine fünf Gramm schwer, schleimig und mit 2640 Zähnen bewaffnet – so schaut sie aus, die neue Liebe von Journalistin Elisabeth Tova Bailey. Als die 34-jährige Amerikanerin wegen einer fiesen Virusinfektion jahrelang das Bett hüten muss, unterhält sie die Schnecke, ein Mitbringsel ihrer besten Freundin. Elisabeth projizierte in das Vieh alle Wünsche, Gedanken, Hoffnungen und schreibt die Kriechtiertage minutiös mit. Ihr Buch wurde bereits hoch gelobt und es ist (überraschenderweise) sehr amüsant. Denn diese Schnecke muss man gern haben: „Meine Freunde waren überrascht und amüsiert, wenn sie von mir eine Postkarte mit einem kleinen Loch erhielten, das mit einem Pfeil und dem hingekritzelten Kommentar versehen war: Von meiner Schnecke gefressen.“ – „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ ist das vermutlich langsamste Buch der Saison. Es ist aber auch eines der anrührendsten. (Elisabeth Tova Bailey: „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“, übersetzt von Kathrin Razum, Nagel & Kimche, 176 Seiten, 16,90 Euro)
Ben Brooks ist 19 Jahre alt und hat bislang fünf erfolgreiche Romane veröffentlicht. Mit „Nachts werden wir erwachsen“ ist nun die deutsche Übersetzung seiner Coming of Age-Erzählung „Grow up“ erschienen. Das britische Style-Magazin „Dazed & Confused“ ernannten den Hipster zum „Phänomen“. Sein Foto wurde nicht mit den üblichen Autorenkommentaren untertitelt, sondern schlicht mit dem Satz: „Ben trägt ein T-Shirt von Sunspel“. Sein Held, der 17-jährige Jasper ist ein leicht verwöhnter, weißer Mittelklassenjunge, der nachts asiatischen Mädchen im Videochat nachstellt, Pflanzendünger als Partydroge schluckt und beim Baden „Mein Kampf“ von Adolf Hitler liest. Seine Mum hat einen Neuen. Keith heisst der und Jasper ist sich sicher, dass Keith ein Mörder ist. Probleme gibt es ausreichend und niemanden, der Keith erden könnte: Seine beste Freundin Tenaya ritzt sich. Sein Kumpel ist ein Weiberheld. Bleibt der Wunsch, seine eher autistisch agierende Mum hätte Eminem geheiratet: „Er würde darüber rappen, wie sehr er mich liebt. Me and this gun, we’ll always be there for you, son. Nice.“ Genauso unvermittelt wie dieser Wunsch ist auch die Story über eine Handvoll konfuser Partytage, lose verbunden durch Therapiesitzungen und Treffen mit Tenaya. Wirkt sehr roh. Sehr echt. Ist aber entgegen anderer Behauptungen gerade deshalb gut gemacht. (Ben Brooks: „Nachts werden wir erwachsen“, übersetzt von Jörg Albrecht, Berlin Verlag, 272 Seiten, 18,90 Euro)
Mit „Love is a Mixtape“ wurde Rolling Stone-Redakteur Rob Sheffield bekannt. Nun kommt sein zweites Musikbuch raus; Erinnerungen an seine Pop-Sozialisation in den Achtzigern. Die New Romantics gehörten dazu und hielten damals jeden Mädchen-Small-Talk am Kochen. Denn darum geht es die meiste Zeit bei Sheffield: Um Mädchen und ihre Musik. Aber auch um Singleauskopplungen auf 99 Cent-Kassetten (die gab es tatsächlich) und um David Bowies Verwandlungskünste. Rob Sheffield hat sich von Morrisseys Songtexten beraten lassen. Bis ihm die Depressivität des The Smiths-Sängers auf die Nerven ging und er seine „Meat is Murder“-Kassette mit „Like a Virgin“ von Madonna überspielte. Ratschläge von LCD Soundsystem-Keyboarder gibt es in diesem unterhaltsamen Buch auch: „Schau dir die Leute an, die neben dir tanzen. Wenn unter ihnen kein Mädchen ist, tanzt zu verkehrt.“ (Rob Sheffield: „Mit Mädchen über Duran Duran reden“, übersetzt von Carolin Müller, Heyne, 336 Seiten, 8,99 Euro)
Ilja Trojanows „Der Weltensammler“ ist kanonisiert. Kein Wunder, dass sich die Geschichte einreiht in die schöne GEO-Hörwelten-Sammlung, neben elf anderen Meisterwerken der Abenteuerliteratur. Der wortmächtig komponierte Roman über den britischen Offizier Sir Richard Francis Burton (1821-1890) wird von Frank Arnold im angemessen klassischem Ton gelesen: Burton interessiert sich mehr für Kobrakurtisanen, Basare und Verkleidungen als für seine militärischen Aufgaben. Autor Trojanow erzählt im Parlando vom faszinierend Anderen und lässt seinen Helden bis nach Mekka reisen. Dieses Buch beweist, dass Toleranz ein Leben adelt. Ein Glücksfall. Kapitelangaben und Hinweise, wo Kürzungen vorgenommen worden sind, fehlen im Booklet leide. Mag der Text eine faszinierende Ausnahmeerscheinung sein – die technischen Ungenauigkeiten dieser Produktion sind ein typisches Problem im weiterhin jungen Hörbuchgenre. Ilja Trojanow: „Der Weltensammler“, gelesen von Frank Arnold, Geo Hörwelten, 470 Minuten, 12 Euro