Weihnachten, das große Familienfest, ist die vulnerabelste Zeit vieler Menschen: An keinem anderen Feiertag brechen Traumatisierungen häufiger auf. Doch man kann sich befreien: durchs Erzählen. Davon berichtet die Klinische Psychologin Maggie Schauer in ihrem 2024 erschienenen Sachbuch: „Die einfachste Psychotherapie der Welt“.
Unter dem vielversprechenden Titel „Die einfachste Psychotherapie der Welt“ beschreibt die Klinische Psychologin Maggie Schauer: „Wie wir die Ursache von Stress und Krankheit behandeln und den Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen“ können. Es geht also: ums Eingemachte – und es geht um Literatur, denn: „Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.“ Mit diesem Zitat der US-amerikanischen Schriftstellerin Maya Angelou eröffnet dieses Sach-, ja man möchte fast sagen: Fachbuch, das tief einsteigt in die sogenannte „Narrative Expositionstherapie“.
Wie bei der Freud’schen „Redekur“ werden auch hier unverbundene, nicht integrierbare Erlebnisse sortiert – durchs heilsame Erzählen, das angesichts eines Traumas unmöglich erscheint. „Menschen in allen Kulturen der Welt haben eigentlich den angeborenen, natürlichen Wunsch sich mitzuteilen, gerade über sehr aufregende Erfahrungen. […] Aber über Traumata können wir nicht sprechen, weil […] der Kern des Traumas eine Gedächtnisstörung ist, die die Betroffenen fest im Würgegriff der Angst hält.“
Das Schreckliche in Worte fassen
An Sätzen wie diesen merkt man, dass hier keineswegs – wie im Titel angegeben – „Die einfachste Psychotherapie der Welt“ vorgestellt wird, eher eine der schwierigsten. Nichts ist selbstverständlich im Zustand der Traumatisierung. Es war Viktor Frankl, Überlebender verschiedener nationalsozialistischer Konzentrationslager, Neurologe und Psychiater, der erkannte: „Eine abnormale Reaktion auf eine abnormale Situation ist ein normales Verhalten.“ Doch wie kann man sich in so einer Situation dennoch mitteilen, zu einer angemessenen Sprache finden, um das Schreckliche in Worte zu fassen?
Maggie Schauers Buch bietet einen klaren Leitfaden, sodass jede Geschichte Stück für Stück in Worte gefasst und geordnet werden kann: Und das ähnelt tatsächlich dem Verfassen eines Romans. Es gibt Hinweise auf den Trost einer möglichen Zeugenschaft, also der Zuhörerinnen und Zuhörer einer Geschichte – zudem: konkrete Schritt-für-Schritt-Anleitungen. So ist es in „heißen“ Momenten sinnvoll, wenn man erst seine Sinneseindrücke beschreibt, später die Gedanken zu diesen Wahrnehmungen, „daran anschließend die daraus resultierenden Gefühle und Körperempfindungen und dann erst weiter, was als nächstes geschah.“
Geschichten retten Leben
Dieser langsame, strukturierte Weg ist einer von zahlreichen faszinierenden Erzählstrategien, die hinabsteigen in den Abgrund, immer wieder neu zeigend: „Durch die vertiefte Narration können Menschen nachholen, was in der Vergangenheit verdreht und versäumt wurde.“ Leserinnen und Leser von Romanen wissen selbstverständlich: Geschichten können Leben retten. Es gibt einen „Ort jenseits des Schreckens, der Angst, der Wut und der Trauer […]. Ihn zu spüren und in Worte zu fassen, ist nicht unerträglich, höllisch oder ungesund, wie manche befürchten, sondern es entsteht auf diese Weise eine stille, zutiefst menschliche Verbundenheit.“ Diese vermeintlich „einfachste Psychotherapie der Welt“ ist nicht nur für Menschen mit schlimmen Erfahrungen hilfreich. Sie ist für alle geeignet, die selbst schreiben oder vielleicht nur verstehen wollen, wie eine spezifische Form der Narration funktioniert. Ein Geschenk mit Tiefenwirkung.
Maggie Schauer: „Die einfachste Psychotherapie der Welt“, unter Mitarbeit von Nataly Bleuel, Rowohlt, Hamburg, 320 Seiten, 18 Euro