„So schafft sich der Deutsche Buchpreis ab.“ Unter dieser Überschrift ätzt Richard Kämmerlings, leitender Feuilletonredakteur der Welt hier gegen die aktuelle Shortlist. Er beschreibt verschiedene Faktoren, die das Scheitern in seinen Augen begründet haben: „in diesem Jahr [ist] mit dem SZ-Kollegen Christopher Schmidt nur ein einziger Literaturkritiker von Rang und mit überregionalem Wirkungsgrad beteiligt. Jurymitglieder sind etwa Markus Hinterhäuser, Intendant der Wiener Festwochen, oder Ursula Kloke, Inhaberin einer ‚gut sortierten Stadtteil-Buchhandlung‘ in Stuttgart-Botnang (auch ein Kollege von der Mayerschen Buchhandlung ist noch dabei). Nichts gegen Buchhändlerinnen, Festspielintendanten oder auch andere passionierte Leser – in einer Jury für den besten Roman des Jahres haben sie dennoch nichts verloren.“
Seit 2005 wird der Deutsche Buchpreis vergeben. Bereits 2014 waren mit Frithjof Klepp (ocelot, Berlin) und Susanne Link (Stephanus, Trier) zwei BuchhändlerInnen in der Jury. Richard Kämmerlings war damals bereits nicht glücklich (siehe unten). Paul Brodowsky schrieb heute auf Facebook: „Dirk Knipphals findet die Shortlist ‚cool‘, weil sie an den Vorliebe-Vorgaben des Literaturbetriebs vorbeigeurteilt hat. Sein Text ist ein wenig auch Reaktion auf den gestrigen Aufschrei von Richard Kämmerlings [Hinweis später von Dirk Knipphals: „als ich den Text geschrieben hatte, kannte ich Richards Text noch nicht.“], der eben wegen dieses Vorbeiurteilens reflexhaft aufgejault hat, was ich teils nachvollziehen kann, aber auch etwas hilflos selbstbezogen finde (ihm fällt im Grunde nichts anderes ein, als quasi sich selbst, oder Mitglieder seiner Kohorte, in die Jury zurückzuwünschen).“ Kommentar Kämmerlings: „Ich stehe zum Expertentum, ganz entspannt, das ist nun einmal meine Jobbeschreibung.“
Ich mag ihn ja und in meinen Literaturkritik-Seminaren hatte ich mehr als einmal Richard Kämmerlings’ F.A.Z.-Rezension zu David Foster Wallace’ „Infinite Jest“ dabei, weil die auf besondere Weise nützlich ist, kann man sie doch während der Lektüre neben das Buch legen und sich anhand des Artikels orientieren. Auch vertraue ich den Indie-Musiktipps von Richard. Freundlich ist er ebenfalls. Trotzdem. Es geht um etwas anderes. Alternative Shortlists werden gern geschrieben, Entscheidungen von Jurys bemängelt usw. Ich nehme mich keinesfalls aus, wie gerade erst im Frühjahr als ich hier in Der Freitag schrieb: „Was ist eigentlich von einer literarischen Nominierungsliste zu halten, die das Beste der vergangenen Monate versammeln will, auf der aber zwei der stärksten Veröffentlichungen dieses Frühlings nicht vertreten sind?“ – Das Nörgeln gehört zum Geschäft.
Weil Richard Kämmerlings bereits häufiger über den Deutschen Buchpreis geschrieben hat als ich (er ist auch zehn Jahre älter!) habe ich exemplarisch gesammelt, wie bei ihm das Sprechen über Literatur gegenwärtig stattfindet und dabei festgestellt: Eine Jury kann nur danebenliegen. Es wird Zeit für neue Zugriffe, wenn z.B. über den Deutschen Buchpreis geschrieben wird, ansonsten wird die Beschwerde zum unfreiwilligen Running Gag, wie vor zirka zehn Jahren, als man teilweise zwei, dreimal in einer F.A.S.-Ausgabe Abwandlungen des Karl-Kraus-Klassikers „je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück“ lesen konnte. Gleichzeitig sollen die zuerst aufgeführten, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissenen Rezensionsschnipsel den kontingenten Zusammenhang zwischen Preis und der selbstverständlich subjektiv geäußerten literaturkritischen Expertise beobachten. (Das Foto zeigt Jenny Erpenbeck. Copyright: Katharina Behling/Knaus Verlag)
Richard Kämmerlings rezensiert Buchpreisgewinner
2007: „Die Mittagsfrau“, Julia Franck: „Ich weiß einfach nicht, was Julia Francks Mittagsfrau, Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt oder Tellkamps Turm mit der Gegenwart zu tun haben.“
2008: „Der Turm“, Uwe Tellkamp „Dieses Buch macht aus Lesern Nichtleser.“ (aus dem Kopf zitiert aus dem gerade im Bücherregal nicht auffindbaren Band „Das kurze Glück der Gegenwart“, Richard Kämmerlings).
2009: „Du stirbst nicht“, Kathrin Schmidt „Einer der besten Romane des Frühjahrs.“ (Richard Kämmerlings war 2009 Mitglied der Jury)
2011: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, Eugen Ruge „Den Deutschen Buchpreis wird in diesem Jahr eine Frau gewinnen. (…) Lesenswert ist ohne Zweifel Eugen Ruges spätes Debüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, ein DDR-Familienroman über vier Generationen, aber in seiner Erzählweise ganz konventionell.“ (14.9. vor der Verleihung).
2012: „Landgericht“, Ursula Krechel „Wichtiges Thema, großes Fleißkärtchen, gut, dass es das gibt. Aber wenn das die Literatur der Stunde sein soll, dann hätte der Buchpreis seinen Hauptzweck endgültig darin gefunden, junge Autoren zu entnerven und zu entmutigen.“
2013: „Das Ungeheuer“, Terézia Mora Die Schriftstellerin Terézia Mora hat den besten deutschen Roman des Jahres geschrieben
Richard Kämmerlings über den Deutschen Buchpreis
2012; „Einige der wichtigsten Bücher sind gar nicht im Wettbewerb. Wenn im Kaisersaal des Frankfurter Römers der Deutsche Buchpreis verliehen wird, dürfte es garantiert den Falschen treffen.“
2013: „Einem Christian Kracht haben manche seinen Erfolg bis heute nicht verziehen. Ein ähnlicher Fall ist Daniel Kehlmann. Denn nur so ist zu erklären, warum Kehlmanns neuer Roman „F“ auf der nun veröffentlichten Shortlist für den Anfang Oktober zu verleihenden Deutschen Buchpreis nicht steht. Bereits auf der Longlist vermisste man Essentielles.“