An diesem Sonntag feierte der Münsteraner Tatort die 25. Folge. „Der Hammer“ bekam gemischte Kritiken. Während Spiegel Online Boerne und Thiel in den Himmel hob, dem Krimi gar Coen-Qualitäten attestierte, zeigte sich stern.de enttäuscht. Erstaunlich bleibt, dass der Tatort weiterhin für Diskussionen sorgt. Nun kommt: „Der Tatort und die Philosophie – schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie“.
Eine gute Nachricht gleich zu Beginn: „Der Tatort und die Philosophie“ ist kein Fanzine in Buchform, auch wenn man hier und da ein paar Randfakten abgreifen kann: Der damals eher unbekannte Udo Lindenberg saß bei der Aufnahme der Titelmusik von Klaus Doldinger am Schlagzeug (50). „Als kürzlich auf der kleinen Insel Langeoog ein Mordfall ermittelt wurde (…) konnten die Behörden nicht zuverlässig sagen, wann sich auf der bevölkerungsarmen Insel überhaupt je ein Gewaltverbrechen ereignet hat.“ (30) Es gibt ganz klare Anspieltipps: „Mit der legendären 322. Tatort-Folge aus dem Jahr 1995 Frau Bu lacht hat beispielsweise Dominik Graf einen Film geschaffen, der das Genre des Kriminalfilms ziemlich überdreht“ (26) und die Erkenntnis, die Reihe sei „Apotheose der Sozialdemokratie und führt am Sonntag vor, wie man, was aus der Ordnung ist, wieder in die Ordnung bekommt“ (176).
Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des Philosophie Magazins hat einige der ambitioniertesten Journalisten gebeten, mit dem Tatort eine Denkrichtung vorzustellen, womit der Falle entgangen wurde, den Tatort zu überhöhen. Denn niemand behauptet hier, Adorno, Nietzsche oder Husserl seien direkt in den Stories angelegt. Das wäre für deutsche Produktionen auch ungewöhnlich, im Gegensatz zu den amerikanischen: „Selbst in einer an sich völlig unspektakulären amerikanischen Mainstreamserie wie den Simpsons gehört philosophisches Denken im doppelten Sinn des Wortes notwendig zur guten Unterhaltung.“ (118)
Aber der Tatort (knapp 9 Millionen Stammzuschauer), weiterhin erfolgreichste Fernsehserie Deutschlands, eignet sich ganz hervorragend, um der Allgemeinheit philosophische Gedanken adäquat näher zu bringen. „Im Jahr 2010 fanden sich auf der Rangliste der 15 meistgesehenen Filme des deutschen Fernsehens allein 13 Folgen des Tatorts!“ (197) Ein Auswahl-Überblick:
Adam Soboczynski stellt Adorno vor und bemerkt: „Dass er [der Täter] gefasst wird, steht immer schon fest. So besehen, zeichnet den Tatort nicht maßgeblich aus, dass er spannend ist. Beinahe im Gegenteil: Es zeichnet ihn aus, dass sein Ausgang vorherbestimmt ist.“ (21) Stimmt nicht ganz, denn in „Das ewige Böse“ kommt der Täter davon. Interessant ist der Hinweis, dass Adorno „gerade das Argument, dass manche Fernseh- und Kinofilme auf zwei Ebenen rezipiert werden können – als einfache Unterhaltung und als subversive Kunst – nicht gelten lassen [würde]. Bevor die Kulturindustrie ihren Siegeszug antrat, so Adorno, standen sich leichte und autonome Kunst schroff gegenüber.“ (27)
Von Beschleunigung und Entfremdung erzählen Ulrich Noller und Jürgen Wiebicke. Mit Hartmut Rosa (Bild) und Byung-Chul Han fragen sie, ob Schenk abends besser bei seiner Familie aufgehoben sei als im Präsidium und ob Ballauf sein unbehaustes Single-Dasein im drittklassigen Hotel aufgeben würde, „wenn die Mörder ihm mehr Zeit für sein Privatleben erlauben würde?“ (64) Die Kölner Kommissare zeigen eine mönchische Hingabe an ihre keineswegs entfremdete Arbeit. In Köln werden die besten Ideen nicht unter Zeitdruck geboren. Ballauf und Schenk verhindern damit jene „Entfremdung von der Zeit“ (67), die Rosa als maßgebliches Phänomen unserer beschleunigten Gegenwart sieht.
Armin Nassehi analysiert mit Edmund Husserl die Zeit des Tatorts, seiner Ansicht nach „das Material selbst, das Movens, das Medium, das aus dem Zuschauer, der in Erwartung der Aufklärung lebt, einen aufgeklärten Zuschauer macht. Wie Aufklärungsprozesse eben stets Prozesse sind, ist das Medium des Tatorts damit gerade nicht der Tatort, sondern die Aufklärungszeit.“ (204) „Das Schöne am Tatort ist, dass man sich auf die 90 Minuten konzentrieren kann, weil ein Fall 90 Minuten dauert, der Rahmen aber eine andere Zeitstruktur hat.“ (205) Eine Anspielung auf „Systemtheorie und Literatur“ (1990) von Dietrich Schwanitz („Der Campus“)? Laut Schwanitz will der Detektiv den Mord lösen, während ihn der Autor immerzu hindert.
Über Identitäten und den „Tod des kriminellen Subjekts“ schreibt Fritz Breithaupt mit Überlegungen Siegfried Krakauers („Die Angestellten“) und erkennt, dass „im Zusammenhang jüngerer Tatort-Folgen (…) Ausreden, Narration und Erfindung nur von der Elterngeneration vorgebracht werden, die sich so schützend vor die postnarrative Jugend stellt. Die Generation der ‚helicopter parents‘ schwebt überwachsend, sich selbst opfernd über den Kindern.“(13) Und ein Mensch ohne Ausrede und ohne Narration „ist ein Mensch ohne Identität“ (141), Sinnbild einer Zeit, in der die Identität Menschen nicht mehr wie im 18. Jahrhundert umrissen werden kann mit Beruf, Familienstand, Konfession.“ (128)
Höhepunkt des Bandes ist Florian Werners großartige Interpretation von „Friedrich Nietzsche und die Tatort-Musik als Geburt der Tragödie“. Diese beginnt mit dem Hinweis, dass jede Jagd mit einer Quarte beginnt – vom Signal für die Treiber im Kessel bis zum Martinshorn deutscher Polizeiwagen. Diesen klassischen Beginn zur Jagd erkennt Werner dann in den ersten Sekunden des Tatortvorspanns, der im zweiten Teil “mit einem markanten, im Achtachtel-Takt gespielten Moll-Ostinato in gänzlich andere Sphären“ (50) führt, vom „mitteleuropäischen Mischwald“ in die Mangrovenwälder von Louisana oder Mississippi.
„Das legen die dazu eingeblendeten Bilder von rennenden Beinen auf regennassem Asphalt nahe, im Dschungel einer US-amerikanischen Großstadt. Auf jeden Fall befinden wir und tief im afroamerikanischen Musikkontinuum, irgendwo zwischen Funk, Jazzrock und Soul.“ (51) Hier ist man bereits im Blaxploitation-Genre (Shaft, Super Fly). „Die Vorspannmusik zum Tatort, zumindest ihr zweiter, amphetamisierter Teil, gehört nicht ins Blaulicht-, sondern ins Rotlichtmilieu.“ (53) Durch diese Differenz kommt Werner dann zu „apollinischer Klarsicht und dionysischem Kontrollverlust“ (57), die sich im Tatort stets abwechselt, zuletzt nach der Auflösung am Ende (Apoll), wo der dionysische Rausch mit der Abspannmusik noch einmal die Amoral feiert.
Wolfram Eilenberger (Hrsg): „Der Tatort und die Philosophie“, Tropen Verlag, 226 Seiten, 17,95 Euro
Hinweis: Die Beitragsbilder sind von wikipedia.de
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