Kurz vor der morgigen Verleihung des Buchpreises ist die Messe in die große Hegemann-Plagiats-Diskussion eingestiegen. In einer sogenannten „Leipziger Erklärung“, die der Verband deutscher Schriftsteller und die Gewerkschaft Verdi initiiert hat, wehren sich prominente Erstunterzeichner wie Günter Grass, Erich Loest und Christa Wolf gegen die neuerliche Verharmlosung und Quasi-Asthetisierung von Plagiaten.
Dort steht: „Künstlerische Kreativität kann langfristig in einer Gesellschaft nur gedeihen, wenn Übersetzerinnen, Schriftsteller, wenn alle künstlerischen Wortschöpfer sich grundsätzlich darauf verlassen können, dass ihr Urheberrecht an ihren Werken geachtet wird.“ Helene Hegemann, die für ihr wohlstandverwahlolstes Debüt „Axolotl Roadkill“ bei anderen Autoren und Textern abgeschrieben hat (ohne das in irgendeiner Art und Weise zu kennzeichnen) ist neben Schriftstellern wie den favorisierten Lutz Seiler („Die Zeitwaage“) und Jan Faktor („Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“) für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Aber zunächst möchte ich ankommen und bin an der Goethe-Statue vorbei zu Auerbachs Keller gegangen, um wenige Meter weiter im Café Mephisto gelandet, wo Schillerbrunnen-Mineralwasser in 0,7-Liter-Flaschen ausgeschenkt wird. Wie man richtig Taxi fährt im freundlichen Leipzig weiß ich seit einem kleinen Chauffeurdesaster aus dem Jahr 2006. Damals wollte ich vom Hotel in die wenige hundert Meter weiter liegende Moritzbastei, um während der Langen Leipziger Lesenacht (die morgen wieder stattfinden wird), selbst zu lesen. Als der Fahrer fragte, wohin es denn gehen solle, sagte mein vorlauter Begleiter: „Ach, zeigen Sie uns erstmal die Mauer, wenn wir schonmal im Osten sind.“ Es wurde dann die teuerste und längste Taxifahrt meines Lebens; immerhin kenne ich seitdem die Stadt ganz gut.
Über Fauxpas in der Fremde (ich lobe jetzt immer überschwänglich die Schönheit dieser Stadt) über die besten Autoren der Messe, von Helge Timmerberg über Katja Oskamp bis zu Hanna Lemke kommen wir im Folgenden (ich habe die Texte einfach in ein Dokument kopiert und hoffe, die ungefähre Chronologie der Leipziger Frühjahrsmesse 2010 eingehalten zu haben).
Bei der Dumont-Lesung im Keller des Café Telegraph wurde die frauenbewegte Sicht auf das (Liebes-)Leben von Jo Lendle, Dumont-Verlagschef und überaus charmanter Moderator des Abends, auf den Kopf gestellt. Neben Andreas Schäfer („Wir vier“), Chamisso-Förderpreisträgerin Sudabeh Mohafez („brennt“) und Ralph Hammerthaler („Der Sturz des Friedrich Voss“) las Mariana Leky aus ihrem Roman „Die Herrenausstatterin“. Darin geht es um Ausnahmezustände, Karateweisheiten, einen rosafarbenen Porzellanflamingo und um Katja, die ihrem Gatten auf äußerst skurrile Art und Weise hinterhertrauert, einen imaginären Freund auf eine Hollandreise mitnimmt und nebenbei etwas mit einem Feuerwehrmann anfängt, der Karatefilme nacherzählt. Sie gewinnt seine Liebe – das glaubte ich bis zum gestrigen Abend, und Jo Lendle glaubte das auch, weil Katja immerhin schwanger wird von dem Berufsretter, doch Mariana Leky gab zu, dass dabei nicht immer Liebe im Spiel sein müsse, sie hätten doch nur Sex gehabt.
Es war eine schöne, eine wirklich der Literatur angetane Stimmung im Café Telegraph. An der Bar gab es Radler und Diesel, zum Rauchen musste man nicht nach draußen, sondern nur zwei Etagen höher, wo junge Damen mit versonnenem Blick über Typen debattierten, die sie „süß“ fanden und wenn man das Ganze beobachtete, musste man jenem Passanten recht geben, der mir, als ich nach dem Weg fragte, unaufgefordert sagte: „Ich komme ja eigentlich aus Hessen, hört man auch, aber hier gibt es doch wirklich die schönsten Frauen Deutschlands“.
Lob der Stadt: Hier gibt es tatsächlich schöne Damen und noch schönere Gebäude, hier gibt es engagiert geführte Antiquariate und Antik-Läden. Hier gibt es Füchse. Einen blinkte der Taxifahrer auf dem Rückweg an; „die laufen wir sogar über den Marktplatz, mit de Tüte in de Gosch“, erzählte er mit und schloss an, dass Bayern nur deshalb so reich sei, weil alle Leipziger Firmen in den Freistaat abgewandert sind. Ich bedankte mich bei ihm für die Kriegsreparationszahlungen der DDR an die Russen und schämte mich ein bisschen mit, weil sein Hochbauingenieursstudium, das er an einer SED-Uni absolvierte, in der BRD nicht anerkannt wurde. Als er dann weitererklärte, dass er Multikulti super finde, den Adolf Hitler aber auch für DEN deutschen Politiker schlechthin halte, standen wir zum Glück vorm Hotel und ich musste aussteigen.
So viele Irrtümer. Aber ich hatte mich bei „Die Herrenausstatterin“ auch geirrt, weil ich annahm, alle Liebhaber, Freunde, Sexpartner der Heldin seien erfunden. Tatsächlich stimmt das nicht, den Feuerwehrmann gibt es tatsächlich, und den Zahnarzt Jakob, der Katja anfangs einen leicht verschrobenen Heiratsantrag macht, den gibt es ebenfalls: „Ich fragte Jakob, ob er mit mir zusammenwohnen wolle, Jakob lachte, legte den Arm um mich und sagte: ‚Gott bewahre.‘ Dann blieb er stehen und räusperte sich. ‚Aber ich kann dir ersatzweise anbieten, dass wir heiraten.'“
Die Sieger des Preises der Leipziger Buchmesse stehen fest und die gute Nachricht ist, dass Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ nicht gewonnen hat, dass mit Ulrich Blumenbach der Übersetzer geehrt wurde, der am meisten gelitten hat, nämlich für die Übertragung von David Foster Wallace‘ „Infinite Jest“ (er hat sich während der mehrjährigen Arbeit sein Erbe vorab auszahlen lassen, um überleben zu können), dass, ebenfalls ausgezeichnet, Ulrich Raulffs „Kreis ohne Meister: Stefan Georges Nachleben“ ein hochintelligentes, ganz wunderbares Sachbuch ist – und man mag über Georg Kleins „Roman meiner Kindheit“ streiten, mir selbst war das Buch zu zäh erzählt und ich glaube weiterhin, dass Michael Lentz‘ „Der Mann der durchs Jahrhundert fiel“ auf wesentlich interessantere Art und Weise einhält, was Klein nur verspricht – aber sei’s drum.
Was soll der Geiz am Ende einer an Geiz nicht armen Veranstaltung. Wir saßen wie auf dem Präsentierteller in der offenen Eingangshalle der Messe. Auf der Balustrade seitlich dieses Raums schauten Besucher auf die lichter werdenden Haare der Literaturszenenmitglieder, die Reden, immer wieder durchsetzt mit Anspielungen zu Helene Hegemann, zur Leipziger Erklärung, zum Verhältnis von Plagiat und Original, waren oft von erstaunlich beliebiger Qualität und als Georg Klein aus Freude ein „Gänseblümchen von der Wiese des Augenblicks propfte“, wollte man ihm Goethes „Wahlverwandtschaften“ in die Hand drücken und sagen: schau nochmal nach, bitte, was das Propfen ist.
Der Glamourfaktor dieser Preisverleihung lag zwischen einer Siegerehrung der jahresbesten Nachwuchssportler Wuppertals (ich weiß, wie es da ist, ich habe so eine „Ehrung“ im Saal der Bereitschaftspolizei Wuppertal selbst vor zirka 15 Jahren erlebt) und der Weihnachtsfeier eines Düsseldorfer Großunternehmens (auch dieser Erfahrungskelch ging nicht vorüber an mir). Es ist freilich leicht, die subjektiven Entscheidungen unabhängiger Kritiker, die immer auch Kollegen sind, mit einem belanglosen Achselzucken oder einer spontanen Daumen-rauf-Geste zu kommentieren. Also bleibt mir nur das kurze Zitat von Peter Stamm, der mir auf Sylt einmal sagte: „Der schönste Preis ist der Ladenpreis, denn den bezahlen die Leser als Anerkennung meiner Arbeit.“
„Die Rede soll so lang gewesen sein“, sagten später am Abend mehrere Gäste in der Moritzbastei, als ich vom CH Beck-Abendessen im Restaurant Maximilian erzählte. Es gab eine lange Rede und alle anwesenden Autoren wurden coram publico aufgerufen, mussten sich von ihren Plätzen erheben und in den vollbesetzten Saal blicken. Michael Stavaric („Böse Spiele“), als früherer Angestellter an der Tschechischen Botschaft in Wien Schlimmeres gewohnt, versuchte dennoch, mich zu überreden, an seiner statt aufzustehen. Aber ich wollte mit etwaigen Verwicklungen weder den Lauf des Abends noch den Lauf des Menüs stören, das erst nach besagter Rede (tatsächlich waren es Reden) aufgetischt wurde.
Das Essen war dem prämierten und gerade mit dem Leipziger Buchpreis (Für das George-Buch) ausgezeichneten Verlag nicht nur angemessen, sondern tatsächlich die im Eingang aufgehängte Gault Millau-Mütze wert: Apfel-Kürbissüppchen mit Garnele, Saibling (ich glaube, es war Saibling) mit Gemüse und ein Nachtisch, der ganz wunderbar aussah, mir aber vorenthalten blieb, weil ich weiterziehen wollte, zu Aufbau, ins „Paulaner“, wo mich Andreas Bernard („Vorn“) fragte, weshalb ich nur Wasser trinken würde. Ich antwortete: „Weil ich Dich morgen noch interviewen will.“ Daraufhin schüttelte Bernard den Kopf und sagte: „Also, ich werde mich jetzt nicht zurückhalten.“ (Gleich treffen wir uns, in einer Kassettengalerie und sprechen über seine Zeit beim Jetzt-Magazin, über Nostalgieliteratur und bestimmt auch über die gefälschten Interviews von NEON-Kollege Ing Mocek.)
Helge Timmerberg war beim heutigen Interview tiefenentspannt und schlug später seinem Verlag Rowohlt vor, eine Baumarktliege anzuschaffen, für die nächsten Messen, damit er sich jederzeit ausruhen könne. Wir trafen uns in den Hinterräumen des Standes, sprachen über Reisen und über sein neues Buch „Der Jesus vom Sexshop“ – kluge, um Ecken denkende Reportagen von Timmerbergs ausgiebigen Trips nach Bangkok, Brasilien, Indien, Paris, Belgrad (die Liste hinkt und klingt wie die Aufgabenstellung eines nicht-interkulturellen Intelligenztests, ich weiß).
Meistens kommt man nachts in einer fremden Stadt an. Wichtig ist dann, sagte Helge Timmerberg, herauszukriegen, wo es Bier gibt, die beste Herberge und eine gute Bar, die dann als Anlaufstelle nutzen könne, für die kommenden Tage. Gegen Blues, wenn man eigentlich wegwill, vielleicht sogar Heimweh hat, der Flieger aber erst in wenigen Tagen startet, lohnt es sich, in irgendeinem Guesthouse nach zurückgelassenen Büchern zu fahnden; zuletzt fand er am anderen Ende der Welt „Die drei Musketiere“ und tauchte ab, in der Literatur.
Am Ende dieses wunderbaren Buchs ist man für die eine oder andere ferne Reise gewappnet und weiß: Kamele sollte man nicht reiten, sondern essen, sie sind Lasttiere und kein Beduine setzt sich freiwillig auf dies unbequemen Tiere. Marokkanische Sittenwächter, die einen bestellt haben, um Beschwerden wegen einer Nacktyogaübung nachzugehen, besänftigt man während seines Wutausbruchs mit einem 200-Dirham-Schein. Dieser Sittenwächter wird dann im selben Tonfall, in selber Lautstärke und im selben „Einsatz von Mimik und Getue“ fortfahren, nur mit anderem Text: „Was das eigentlich die Nachbarn angeht?! Was die eigentlich glauben würden, wer sie seien?“ Denn in Marokko sei das Haus heilig. „Da kann jeder machen, was man will.“
Abtauchen, in die Literatur, wollte auch eine sehr rührende Familie aus Süddeutschland, die mit ihrer 18-jährigen Tochter im Bahnhofscafé neben mir saß und immer wieder herüberschaute, weil ich auf Karteikarten die besten Stellen aus Benjamin von Stuckrad-Barres KiWi-Sammelband „Auch Deutsche unter den Opfern“ notierte. Wir kamen ins Gespräch und ich erfuhr, dass ihre Abituriententochter auch eine Lesung habe, morgen, am Stand eines der vielen sogenannten Zuschuss-Verlagen, die ihren ersten Kriminalroman veröffentlichen werden, Normalerweise erhalten Autoren ein Honorar, wenn sie ihre Arbeit abgeliefert haben; die Familie zahlte jedoch für ein Taschenbuch, das stolze 17 Euro kosten wird und sogar eine ISBN-Nummer hat (kann jeder selbst bestellen oder auch bei Book on Demand für kleines Geld in Auftrag geben). Die Familie hatte ihr Erspartes verwendet und stolze 9500 Euro (netto) für eine Arbeit bezahlt, die besagter Verlag mit links leisten dürfte (Versendung von läppischen 30 Rezensionsexemplaren, angebliche Bemühung um Übersetzungslizenzen usw.) haben solche Abzockerfirmen auf der schönen Leipziger Buchmesse zu suchen?