„Dann fingen die ersten harten Tage an. Ich wollte meine Mauer wiederhaben. Ehrlich. Ich fand die alle doof. Die sahen scheiße aus, benahmen sich blöd, und ich bekam abends kein Obst mehr. Man kam in keine U-Bahn mehr rein, und die Schlange um den Beate-Uhse-Laden ging dreimal um den Block. Das war ganz schön gruselig.“ Loveparade-Organisatorin Kati Schwind kann in diesem euphorischen Augenblick nicht ahnen, welche Kraft aus Ostdeutschland in den Westen strömt, dass die niedergerissene Mauer Berlins spätere Weltherrschaft auf dem Technofeld überhaupt erst ermöglichen würde.
Das liegt nur anfangs an den neuen Einrichtungsmöglichkeiten, an dies sich Ben de Biel (Mitbetreiber des „Maria“, inzwischen Pressesprecher der Piratenpartei in Berlin) mit Strahlen in der Stimme erinnert: „Ab dem 1. Juli konnten die Ossis einen Teil des Er- sparten eins zu eins in D-Mark umtauschen. Dann hatten plötzlich alle Geld, und in kürzester Zeit standen die Straßen voll mit ausgemusterten Möbeln und Hausrat. Genial. (…) Irgendwann sollten die Leuchtreklamen von den Dächern. Vom Berliner Verlag zum Strausberger Platz, vom Haus des Reisens bis zum Roten Rathaus hing alles voll. Das waren riesige Lettern: Modisch, schick, elegant: Tatra Automobile, Kowo Import Export. Die WBM wollte die Schilder weghaben, viele von den Ost-Firmen gab es ja nicht mehr. Und die hofften, dass sie die Flächen neu vermieten könnten. Der Deal war: Geh zu Frau Fischer von der WBM und sag: „In dem Stab ist Quecksilber, ist also giftig und würde in der Entsorgung viel Geld kosten. Ich bin armer Künstler, ich nehm‘ die mit, danke.“
Aus dieser Aufbruchstimmung der unmittelbaren Vor- und Nachwendejahre berichten die Interviewpartner von Felix Denk und Sven von Thülen und klären letzte Fragen: Wer hat die erste Acid-, wer die erste House-Party in Deutschland geschmissen? Wie hoch war der weiße „Mont Blanc“-Koksvorrat in der Schublade von Frontpage-Chefredakteur Jürgen Laarmann? Warum ist Techno Vorreiter von Public Viewing und der Fanmeile am Brandeburger Tor? Wann switchten die Scheinwerfer von der Tanzfläche auf die DJ-Kanzel und machte den Plattenaufleger zum Star der „Raving Society“?
Die Antworten gibt es in „Der Klang der Familie“ (angelehnt an den gleichlautenden Hit von 3Phase feat. Dr. Motto von 1991). Es geht um Mythen wie den „Summer of Love“, um Rivalitäten (Trance vs. Techno vs. Tekkno vs. Deppendisco), um XTC-Kuschler, Leder-Schwule, Smiley-Aktivisten, den Gegensatz zwischen den „Fürsten der Nacht“ aus Frankfurt mit ihren gerollten Tausenderscheinen und den euphorisch-naiven Hausbesetzer-Ravern in Berlin. Diese grandiose Interviewmontage kopiert formal Jürgen Teipels Punk- und New Wave-Klassiker „Verschwende Deine Jugend“, ist quasi die Fortsetzung mit teilweise gleichem Personal (Gabi Delgado, Inga Humpe etc.).
Ausgehend von den Parties Mitte der Achtziger über die erste, gerade mal 770 Mark teure „Loveparade“ 1989 kurz vor der Wende, mit dem Durchbruch 1991, „das entscheidende Jahr für Techno. Vorher mussten die DJs ihre Sets noch mit Nitzer Ebb, Liaisons Dangereuses, Meatbeat Manifesto und solchen Sachen strecken, damit sie genug Platten für die ganze Nacht hatten. Das war dann nicht mehr nötig. Man konnte sich voll auf Techno-House konzentrieren.“ (Rave-Aktivist Stefan Schvanke, der seit 1992 die Oldschool-Partyreihe „Back To Basics“ veranstaltet.)
Ebenfalls Rede und Antwort stehen, versehen mit der „Macht der Nacht“, Leute wie: Paul van Dyk, Westbam, Dr. Motte, den Crews von Ufo, e-werk, Walfisch, Krik, Tresor, Loveparade und Tekknozid vs. Mayday. Eine extrem verschwitzte, smarte Oral History des Hauptstadt-Raves, von den Anfängen Mitte der Achtziger bis zum Kommerzhöhepunkt 1996 („Somewhere over the Rainbow“).
Felix Denk, Sven von Thülen. „Der Klang der Familie – Berlin, Techno und die Wende“, Suhrkamp, 452 Seiten, 15,50 Euro