Eine anonyme Mail, viele verunsicherte Frauen, der Tod in Wien und ein Chat über Palatschinken: Silvia Pistotnigs Debütroman „Nachricht von Niemand“ erzählt eine Geistergeschichte übers Internet und ob es dort auch Liebe gibt.
Man stelle sich einmal vor, wie jetzt, während man diesen Artikel über Silvia Pistotnigs Debütroman „Nachricht von Niemand“ liest, das Mailprogramm am unteren Bildschirmrand aufblinkt – es ist keine MP3-Rechnung, kein „Herbst-Special“ für Irgendwas, kein „WOW-Angebot!“, auch kein Arbeitsauftrag, sondern die Mail eines Unbekannten, der einem aus dem Nichts seine Rührung mitteilt und das kleine Herz gleich weit zu öffnen weiß. So passiert es Lu, der Heldin von „Nachricht von Niemand“. Ein Absender, der sich Noone bzw. K. nennt, schreibt an „alleswirdbesser@gmx.at“, an Lu, und gesteht, er habe ihre Adresse in einem Verteiler entdeckt. „Und seitdem muss ich immer daran denken.“
Die Welt bekommt durch solche Aktionen einen Riss. Plötzlich geht einem durch den Kopf, dass im Netz überall Daten gespeichert werden, dass man über Trojaner ausspioniert werden kann, dass es die Möglichkeit gibt, von draußen auf die private Webcam zuzugreifen. Man stellt sich Fragen, wird unsicher, wie Lu, die einzuordnen versucht: „Eine kranke Werbeaktion? Ein dummer Witz? Spam? Eine völlig neue Virusart, die sich sogar über Textnachrichten verbreitet?“ Sie erschrickt, starrt auf ihren Bildschirm, zieht ihre langsam anwachsende Diplomarbeit sicherheitshalber auf einen USB-Stick und wartet. Doch ihr PC verhält sich ok, kein Programm stürzt ab – nur in ihr drinnen sieht es ab jetzt chaotisch aus.
Sie wundert sich, erzählt ihrer besten Freundin von dem digitalen „Überfall“, geht dann etwas ratlos zu einem Vorstellungsgespräch, das deprimierend verläuft, sie datet ihre seit einem Jahr geschiedene Affaire Erich: „In ihrem Kopf läuft eine Rateshow. Wir begrüssen Sie herzlich zu unserer Sendung „Kommt er mit oder nicht?“ Sie ärgert sich am Telefon über ihre Hippiemutter, die nie den Unterschied zwischen antiautoritärer Erziehung und Wohlstandsverwahllosung verstanden hat und ihrer Tochter Vorwürfe macht, weil sie als PR-Texterin arbeiten will. Komisches Leben, seltsame Zeit. Da kommen weitere Mails des Unbekannten, charmante Sätze, verträumte Erzählungen aus seinem Leben und Lu, schwach geworden, antwortet Noone, stammelnd selbst in der geschriebenen Nachricht: „ichichichichichichweißjaauchnicht. muss ich warten, bis es vorbei ist, oder muss ich es beenden, damit es vorbei ist? können sie mir das sagen?“
Langsam gibt der Unbekannte mehr von sich preis, unterschreibt schon kurz darauf mit dem Kürzel „K“, was Lu zu den wildesten Spekulationen animiert: „K. Konrad. Konrad, ihr verstorbener Onkel. K. Kontoauszug, Karriere, Krankheit, Kuss. Karl, ein Junge, auf den sie in der Schule abfuhr. Katrin, eine frühere Arbeitskollegin, die sie einmal im Monat trifft. Karolin, ein Mädchen aus der WG. Kurt, ihr Zahnarzt. Knut, Berlins weißer Bär. Kennedy.“ Sie unterhalten sich über die Zubereitung von Palatschinken, Weltumrundungen, die TV-Serie „nip/tuck“ in der alle unfassbar reich und schön sind und dann, wie bezaubernd es ist, durch einen stillen Wald zu gehen. Zwischendurch hat Lu schlechten Sex mit Erich, eine Bohrmaschine dröhnt nervtötend, während ihr Lover seine Lust an ihr abarbeitet, aus dem schlechten Sex wird eine schlechte Beziehung und plötzlich glaubt Lu, vor einer Entscheidung zu stehen.
Unzählbare Geschichten spielen mit dieser absurden Netz-Situation, in der es nichts gibt, was man anfassen könnte. Schnell dreht sich das Leben, wie im Kinofilm „e-m@il für Dich“, als sich Buchhändlerin Kathleen Kelly (Meg Ryan) ausgerechnet in ihren größten Feind Joe Fox (Tom Hanks) via Chataustausch verguckt. Der österreichische Autor Daniel Glattauer hat mit seinen Email-Schmonzetten „Gut gegen Nordwind“ und „Alle sieben Wellen“ das hohe Lied des anonymen Netzverkehrs hingelegt und nebenbei den alten Briefroman (wie z.B. Goethes „Die Leiden des jungen Werther“) wieder aktuell werden lassen. Das globale Dorf, das uns auf einem Bildschirm präsentiert wird, ist, näher betrachtet, doch nur ein großes, schwarzes Loch, Google Street-View hin oder her. Das Netz bleibt geheimnisvoll, selbst Portraits bindungssuchender Singles in irgendwelchen Partnerbörsen sind rätselhaft. Bis man sich zum ersten Mal trifft.
Nun kommt also Silvia Pistotnig mit ihrem ambitionierten Gespensterbuch „Nachricht von Niemand“, das zwei Welten gegenüberstellt: Auf der einen Seite die Realität (oder das, was wir für die Realität halten), mit echten Freundinnen, echten Eltern, echten Schicksalsschlägen und auf der anderen Seite die Virtualität, wo es auch Freundinnen, Eltern, Schicksalsschläge gibt, aber in gedämpfter Weise, als sei der Bildschirm ein Schutz. Es ist ein Schutz, der irgendwann, im Laufe der Geschichte, niedergerissen werden wird, aus Virtualität wird Realität, aus K. ein leibhaftiger Mensch – und das Ergebnis ist, so viel kann verraten werden, über alle Maßen mysteriös. Obwohl scheinbar alles offen vor einem liegt, behält dieses Buch selbst nach der letzten Seite ein Geheimnis. Und deshalb ist „Nachricht von Niemand“ ein besonderes, ein besonders schönes Debüt.
Silvia Pistotnig: „Nachricht von Niemand“, Skarabæus, 236 Seiten, 19,90 Euro