Es ist ein beliebter Allgemeinplatz, dass deutsche Schüler mit dem Thema Nationalsozialismus geradezu überfrachtet werden. In Deutsch-, Geschichts- und Politikunterricht werden Holocaust, Hitlerdiktatur und HJ-Erfahrungen scheinbar ununterbrochen durchgenommen.
„Aber stelle ich meine Studenten im historischen Seminar die zwanzig wichtigsten Fragen zu Exil und Vertreibung herrscht unwissendes Schweigen“, berichtet Dieter Nelles (hier im Litradio) von der Wuppertaler Universität. Anscheinend existiert ein eklatanter Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Realität. Dies zeigte zumindest die Tagung „Ethik der Erinnerung“, die am vergangenen Wochenende in Wuppertal stattfand. Die Gesellschaft für Exilforschung, die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft und die dortige Volkshochschule hatten Wissenschaftler und Pädagogen eingeladen, um nachzufragen, wie man unfassbare Vertreibungserfahrungen an Schüler vermitteln kann.
„Es ist der unauflösbare Gegensatz zwischen der Hypothese des Sinnlosen des Holocaust als realem Geschehen und Signum des schier Unbegreiflichen einerseits und dem Wunsch nach Sinndeutung der Barbarei und des Bösen andererseits“, sagte Literaturwissenschaftler Jens Birkmeyer aus Münster. Erinnern setzt Wissen voraus. Darin waren sich alle Tagungsteilnehmer einig. Doch diese Bildung kann nur dann entstehen, wenn nicht bereits vorab bewertende Erinnerungskulturen übernommen wird, wenn zu Beginn bereits feststeht, was man im Unterricht zu sagen, zu denken hat. Stichwort: erhobener Zeigefinger.
„Ich befürchte, es wird zur Zeit, also in der Post-PISA-Ära, zumindest in der Schule schwierig sein, diese Bedingungen herzustellen, denn die Durchführung von überregionalen Lernvergleichstests, die Ausarbeitung von standardisierten Kerncurricula und die Einführung des Zentralabiturs führen in noch stärkerem Maße als bisher zu reinem Faktenlernen und abfragbaren Wissen anstatt zu aktiver Auseinandersetzung.“ Dies bemerkte Inge Hansen-Schaberg, Leiterin der „AG Frauen im Exil“. Sie schlägt vor, „die Zugänge müssen in Anknüpfung an die Erfahrungswelt der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen erfolgen.“ Das heißt: „Bildungsinstitutionen sollten als soziale Einrichtungen verstanden werden. Jeglicher Unterricht müsste demzufolge ein Möglichkeitsraum für intellektuelle, ästhetische und soziale Selbsterprobung werden.“
Also: Gedenkstättenbesuch und Einladung von anfassbaren Zeitzeugen, die im Unterricht von ihren Erfahrungen als Kind im Nationalsozialismus berichten? Zumindest sollte er Schüler in ihrer eigenen Welt ansprechen, eine Welt, die mit dem Nationalsozialismus erst einmal nichts mehr zu tun hat. Und wie lassen sich Schüler ansprechen – indem man sie interessiert. Die PISA-Studie hat kritisiert, dass deutsche Schüler einen Mangel an Selbstständigkeit, Kreativität und Problemlösungsstrategien aufweisen. – Der Herrenberger Realschullehrer Harald Roth zeigte, wie man es besser machen kann. Er ließ seine Schüler individuell wählen, mit welchem Buch sie sich beschäftigen möchten. Auf einem Tisch lagen fünfzig Biographien zum Thema aus. Fußballfan Andreas, 15 Jahre alt, blätterte etwas lustlos im Angebot herum, bis er sich für das schmalste Bändchen entschied.
Es war die Vertreibungsgeschichte eines Kindes. Andreas hat die Geschichte gelesen, mit Spannung. Er hat plötzlich diesen Wahnsinn geahnt. Und zwar nicht deshalb, weil ein Lehrer ihn zur Betroffenheit erzogen, sondern zur freien Auseinandersetzung geführt hat. Werden deutsche Schüler mit dem Thema Nationalsozialismus überfrachtet? Die Tagung hat gezeigt, dass Quantität und Qualität hier wenig miteinander zu tun haben. Ersterem widersprach Harald Roth übrigens vehement. Der gymnasiale Lehrplan sieht durchaus eine jährliche Beschäftigung vor. „In der Realschule hat sich Andreas zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigt.“ Und da man vermuten darf, dass ein Lehrling selten die Muße besitzt, um sich weitergehend zu informieren, war dieses eine Mal besonders wichtig.