Eine Schusswaffe als Reliquie, die Wunden der Liebe zufügt, Lazarus, Maria und ein ratloser Kommissar im Kirchenmilieu – Debütantin Anna Albinus begeistert in ihrer Novelle „Revolver Christi“ mit einem religiösen Rätselplot.
Novellistisch präzise beginnt diese legendenartige Erzählung mit einer sehr genauen Datumsangabe: Am 5. Juli 2018 um 12:07 Uhr, fällt in jener Kathedrale, die gerade den sogenannten „Revolver Christi“ ausstellt ein Schuss: „Wie in einer hundertfach geprobten Choreographie springt der Schütze nach dem Abfeuern aus etwas anderthalb Körperlängen Entfernung zu dem getroffenen Objekt und fängt mit der linken Hand den heruntergefallenen Revolver auf, die Tatwaffe noch mit dem Finger am Abzug in der anderen Hand haltend.“
Abgeben wird dieser Schuss von einer Anfang 30-jährigen Frau mit dem biblischen Namen Johanna Wächter. Wie der Engel des Herrn begegnet diese bewaffnete Heilige Johanna den Menschen bisweilen mit den Worten: „Fürchtet Euch nicht.“ – Bei der Tat wird gottlob niemand verletzt, doch rätselhaft bleibt, was die Rechtsanwaltsfachangestellte zu ihrer gefährlichen Aktion motivierte. Ein Kriminalbeamter nimmt die Ermittlungen auf. „Stoppt man das Video an der Stelle, wo die Arme des Schützen auf Brusthöhe sich nach unten zu senken beginnen, sieht man, dass die beiden Waffen in Form und Größe identisch sind.“
Das Schwert Gottes
Die Zeit der Kreuzzüge ist seit über 900 Jahren Geschichte, das „Gladius Dei“, das „Schwert Gottes“, hat seine Bedeutung für kirchliche Politik größtenteils eingebüßt. Dennoch steht die Grundkonstellation von Anna Albinus Debütnovelle „Revolver Christi“ auf aktuellerem Realitätsgrund, als es der Titel a priori vermuten lässt, denn es geht um den finsteren Zusammenhang von Glaube, Gewalt und Reliquienverehrung, also den monströsen Elementen dieser eigentlich friedsamen Religion.
„Die als Revolver Christi bekannte Waffe ist eine geschmiedete Handfeuerwaffe mit holzverkleidetem, intarsiertem Lauf. Der Legende nach erwarb sie ein pfälzischer Edelmann als Hochzeitsgeschenk für seinen Schwiegersohn, der aufgrund seiner ausgezeichneten Treffsicherheit bereits mehrfach in Schlachten aufgefallen und mit militärischen Ehrungen bedacht worden war, die ihm eine glänzende Karriere vorhersagten. Die erworbene Waffe stand im Ruf, seinem Besitzer besonderes Glück zu bringen und war zudem mit außergewöhnlicher Kunstfertigkeit gemacht.“
Weg zur Militia Christi
vZunächst bleibt unklar, in welcher Beziehung Revolver und Christus stehen – bis endlich berichtet wird, dass dieser als Dingsymbol der Novelle gewählte Revolver nicht vor 2000 Jahren in Jesu’ Besitz gewesen ist, sondern erst viel später in die Hände eines Mannes gelangte, der als Gottessohn identifiziert wurde, als Fingerzeig, als legendenhaft-orientalische Erscheinung. Behauptet wird von der Gattin des damaligen Waffenbesitzers, „der Mann habe ein wie zum Turban geschlungenes Tuch um den Kopf getragen, in dem sie eine Krankenbinde zu erkennen glaubte, außerdem sei sein Hemd an mehreren Stellen durchlöchert gewesen, als habe er sich durch eine dornige Hecke geschlagen.“
Diesem Pseudo-Christus wird die Waffe ausgehändigt, damit das profane Stück zum Revolver Christi – durchaus im Sinne der biblischen Bergpredigt, wo jener Satz fällt, der den späteren Weg zur Militia Christi ebnet, denn: „Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“
Geheimnisumwitterte Tode
Auf knapp 70 Druckseiten wird im gattungsgemäß hohem Ton eine theologisch inspirierte Kriminalgeschichte erzählt. Immer deutlicher erscheint, dass zwischen dem Revolver Christi, der Rechtsanwaltsfachangestellten und dem Kriminalbeamten ein mirakelhafter Zusammenhang besteht. Der Revolver erscheint fluchbeladen und bringt vielen Menschen einen geheimnisumwitterten Tod. Immer wieder verweisen Figurenbeschreibungen, nebenbei eingestreute Halbsätze, Orts- und Zeitangaben auf Bibelstellen, auf die Novellengeschichte und auf theologische Fachdiskussionen. Sogar simple Körperhaltungen werden bedeutsam:
„Sie hatte die Hände rechts und links neben sich abgestützt und den Rücken nach vorn gebeugt, in der gleichen Haltung hatte sie in der Haftanstalt vor mir gesessen.“ Und deuten beispielsweise auf den gekreuzigten Heiland und seine Vernehmung durch den sogenannten „Hohen Rat“. Nun sind diese theologisch-erzählerischen Feinheiten nicht notwendige Bedingungen der Möglichkeit, um „Revolver Christi“ zu verstehen; doch ein gewisses Interesse für die christliche Heilslehre und Ikonologie erhöht das Lesevergnügen auf besondere Weise. Mit diesem hochkonzentriert gearbeiteten Text ist Anna Albinus ein bemerkenswert reifes Debüt gelungen, eine Novelle, die nicht nur schießen kann – sondern gleichsam trifft.
Anna Albinus: „Revolver Christi“, Edition.fotoTAPETA, Berlin, 80 Seiten, 15 Euro