Am heutigen Dienstag moderiere ich eine Lyrik-Schwerpunktsendung im „Büchermarkt“ des Deutschlandfunks (von 16:10-16:30 Uhr) – darin wird Enno Stahl die beiden Neuerscheinungen von und zu Jan Wagner vorstellen („Selbstportrait mit Bienenschwarm“ und den „Text & Kritik“-Band #210), ich habe als Gast live im Studio den Kölner Dichter Adrian Kasnitz mit seinen beiden Bänden „Kalendarium #2“ und „Glückliche Niederlagen“, außerdem geht es, vorgestellt und kommentiert von Guido Graf, um die aktuelle Debatte zur „prekären Lage der Lyrikkritik“. Inzwischen ist es schwierig, einen Überblick zu behalten, derart zahlreich sind die unterschiedlichen, im Netz zu findenden Beiträge. Deshalb habe ich hier alle Argumente chronologisch – und mithilfe dieser fixpoetry-Linkliste – zusammengefasst.
Am 24. März veröffentlichte der Lyriker Tristan Marquardt (Beitragsbild: Wikipedia) im Signaturen-Blog seinen Text „Zur prekären Lage der Lyrikkritik“, der eben diese Kritik in „ihre(r) Verstreutheit, thematische Kontingenz und Qualität im krassem Widerspruch zur kaum zu verkennenden Produktivität und Vielfalt der Gegenwartslyrik selbst“ beobachtet. „Weder kann sie abbilden, was sich in der Lyriklandschaft zurzeit alles tut, noch bewegt sie sich – bis auf einige Ausnahmen – inhaltlich auf ihrem Niveau.“ Marquard erkennt folgende Probleme: Welche Lyrik das Feuilleton bespricht ist einerseits (und angeblich) kontingent, andererseits würde durch immer neue Lyrik-Sammelberichte der Eindruck erweckt, die Dichtung sei nicht mehr als eine beschauliche, dazu schwer verständliche Subgattung. „Prinzipiell gilt, dass kaum eine Hand voll aktiver Rezensent*innen sich mit der neuen Lyrik so gut auskennt wie die Mehrzahl der Lyriker*innen selbst.“
Diese Lyriker*innen beobachten und loben nach Marquardts Erfahrung in ihren (Internet-) Rezensionen vor allem: ihre Freund*innen. „Zu solchen Verflechtungen kommt hinzu, dass ein gewichtiger Teil der im Internet Rezensierenden keine journalistische Ausbildung oder Erfahrung hat, und das Niveau auf den Online-Portalen entsprechend labil ist.“
Schön ist hier die Replik von Kollegin Elke Engelhardt, die schreibt: „Oft genug verunsichert mich mein mangelndes Rüstzeug, mein fehlendes Hintergrundwissen. (…) Bei diesem Diskurs ist mir zuviel entweder – oder und zu wenig Suche nach einem sowohl als auch. Womit ich meine: gucken, wie die Kollegen es machen, auch die Profis, und dann nach einem eigenen Weg suchen.“
Der poetenladen-Redakteur Walter Fabian Schmid antwortet einen Tag später mit „Kommt erst mal selbst aus den Seilen“ mit dem interessanten Argument: „Wenn man Gesamtübersichten kritisiert, muss man auch Einzelbandbesprechungen kritisieren, denn solche sind ebenso eine Gesamtübersicht. Jedes Gedicht, falls nicht gerade ein stringentes und konsistentes Konzeptalbum vorliegt, operiert einzeln für sich auf andere Weise. (…) Um Vielfalt wirklich vor Augen zu führen eignet sich die Gegenüberstellung einzelner Gedichtbesprechungen besser. Das geschieht etwa in der Frankfurter Anthologie, der Münchner Anthologie oder den beiden Gelben Akrobaten. Vielleicht wird deswegen auch die Reihe Hundertvierzehn Gedichte von Marquardt gelobt. Das ist schliesslich nur die Fortführung der „Frankfurter Anthologie“, gedreht ins Interaktive des medialen Zeitalters.“
Den darauf folgenden Beitrag von Frank Milautzcki kommentiert Fixpoetry süffisant mit „th;dr (too harmless; didn’t read)“, dabei ist immerhin dieser Absatz von Milautzcki beachtenswert: „Ich denke, eine von der Person des Rezensenten unabhängige Kritik gibt es nicht. Und was fehlt, ist m.M.n. nicht „Professionalität“ im Sinne akademischer Betrachtung, ausgebildetes Spezialistentum (das wir längst haben, nachdem zig Generationen Hildesheim und Leipzig und Wien hinter sich gebracht haben und nun in die „Ämter“ des Betriebs drängen).“ Man kann durchaus Kritik auch als Nachdichtung, als „künstlerische Auseinandersetzung mit einem Untersuchungsgegenstand“ (Matthias Friedrich in „Die Kritik als Dichtung zweiter Ordnung“) und wer würde dem widersprechen, der je auch nur einen literaturkritischen Beitrag von Karl Kraus, Friedrich Schillers Text „Über Bürgers Gedichte“ gelesen hat oder die kluge Analyse von Walter Benjamin zu Goethes „Wahlverwandtschaften“. Jan Kuhlbrodt im Büchermarkt: „„Im Prinzip sollte sich ein kritischer Text wesentlich auch darum bemühen, ein Primärtext zu sein, nicht so sehr sich als sekundärer zu verstehen.“
Dagegen trumpft Julietta Fix, Herausgeberin des Fixpoetry-Portals, in ihrem in Majuskeln kommenden Beitrag „MEET THE BETRIEB“ auf, indem sie ketzerisch daran erinnert, dass der professionelle Kritiker schon allein deshalb nicht mehr im stillen Kämmerlein seiner zisilierenden Kärrnerarbeit nachkommen kann, weil er sich – wie so viele Menschen, die heutzutage mehrere Berufe ausüben, um sich über Wasser zu halten – profilieren muss in Jurys, bei Lesungsmoderationen und Podiumsdiskussionen (man könnte die Liste um Blogs, Herausgeberschaften und gelegentliche Fernseheinladungen ergänzen). Julietta Fix berichtet aus der eigenen Arbeit: „Eine optimale Kritik, wie ich sie mir für Fixpoetry wünsche, fällt kein wissenschaftliches Urteil, enthält sich der Wertung, zeigt aber am Text Struktur und Beziehungen auf. Das Kriterium ist nicht das Gefühl, Gefühl und Intertextualität trennen sich. Die wichtigste aller Adressatinnen scheint mir in all den Diskussionen immer wieder vergessen zu werden: die LESERIN.“ Denn für die wird Kritik geschrieben, durchaus auch unterhaltsame Kritik, die sich in Beziehung zu anderen Texten setzt, die neugierig macht usw.
Dem gegenüber steht die Hoffnung Marquardts, Lyrikkritik könnte den Dichtern selbst argumentativ zur Seite stehen. Das hypertrophiert Alexandru Bulucz in seiner Replik mit der Analyse, dass heutzutage nicht mehr – wie seit Martin Opitz’ Zeit der Regelpoetiken – der Dichter dem Kritiker zu folgen habe, sondern vielmehr nun umgekehrt der Kritiker dem Dichter. Bulucz: „Der Rezensent ist der kritische Faden zwischen Literatur und Literaturerkenntnis und, wenn man so will, zwischen Schöpfung des Werks und Erlösung des Werks durch seine Erkenntnis: Das ist der ganze Gedanke in Benjamins „Aufgabe des Übersetzers“. Der Kritiker ist der Übersetzer. Er übersetzt ein Werk, weil es weltweit nur eine Kopie dieses Werks gibt und er es an den Autor zurückgeben muss.“
Ebenfalls am 25. März – ein Schelm, wer hier keine lyrikszeneninterne Absprache vermutet – antwortet der studierte Mathematiker Franz Hofner mit „Meine Meinung zur Kritik“, wo er sich ebenfalls dem Adressaten von Literaturkritik zuwendet: „Lyrik-Kritik ist ein Text, ein Gebrauchstext. Texte werden geschrieben, um gelesen zu werden.“ Er bringt hier nun einerseits die Emotionen als wichtiges Movens ins Spiel, schreibt aber andererseits auch, dass eine wissenschaftliche Ausbildung des Rezensenten hilfreich sei, seiner Meinung nach übrigens viel mehr als die artistische Kenntnis des journalistischen Handwerks, denn „handwerkliche Defizite lassen sich leichter erkennen und beheben als ein dröge-routinierter Ton. Häufiger stört mich an journalistisch ‚guten’ Texten die Konventionalität des Verständnisses von Sprache und eine vorgeschobene Pseudo-Objektivität.“ Das wird noch gesteigert von Kristoffer Cornils, wenn er behauptet: „Es gibt in diesem Feld keine Professionalität, höchstens die (Selbst-)Annahme davon.“
Jan Kuhlbrodt liefert am 26. März elf Thesen zur Literaturkritik, die er mutig mit Immanuel Kants Diktum „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ einleitet. Es war Marcel Reich-Ranicki, der einst in seinem kanonischen Band „Über Literaturkritik“ anmerkte, dass ausgerechnet in unserem Land, dessen wichtigster Philosoph gleich in zweien seiner Hauptwerke das Wort „Kritik“ im Titel führt, der Kritiker als Nestbeschmutzer gilt. Zu Kant passend sind Kuhlbrodts Thesen strikt der Aufklärung verpflichtet und gerade die zehnt kommt angenehm prägnant daher, wenn er schreibt: „Die Wertung geht der Kritik voraus, sie ist nicht ihr Ergebnis. Denn wenn ich mich einem Text zuwende, halte ich ihn für wert, mich mit ihm zu beschäftigen. Und mich mit ihm beschäftigen heißt, ihn zu verstehen in seinem Gehalt, seiner Machart, seiner Struktur, seiner Einbettung in die literarische Tradition oder in seinem Widerstand dazu etc.“
An Reich-Ranicki erinnert übrigens auch der Hinweis von Paul-Henri Campbell in seinem Beitrag „Die beste Kritik der Kritik besteht in guten Kritiken“, wenn er eine der vornehmlichsten Aufgaben von Literaturkritik darin sieht, dass sie allein das Gute sichtbar vermittelt, „denn über das Dürftige, wovon ja – wie wir alle wissen – es ebenfalls ausreichende Bestände gibt, sollte man schweigen.“ Aber hierzu müsste die Kritik laut Charlotte Warsen in „Kritik vs. Kommentarfunktion“ einen neuen Begriff von ihrem Gegenstand entwickeln, denn, „momentan funktioniert der Begriff der Lyrik in meinen Augen weder sinnstiftend noch Neues eröffnend; er fungiert weiterhin meist als lahmer Gegenspieler zu einem lahmen, aber recht mächtigen Begriff von ‚Prosa‘.“
Wer alle Debattenbeiträge (es sind etliche mehr) gelesen hat, fühlt sich schwindelig, ob der vielen Argumente: wird Literaturkritik anständig honoriert oder nicht? (und was sagt eigentlich Georg Franck dazu?). Muss der Kritiker nun selbst ein Dichter sein, dem Dichter dienen, den Leser*innen dienen, irgendwen unterhalten, die Spreu vom Weizen und die Freundschaft von kritischen Blick auf seinen Gegenstand trennen? – Interessant bleibt, dass diese Debatte keine Resonanz in den etablierten Medien gefunden hat. Guido Graf stellt fest, dass auch eine kundige Lyrik-Leserin wie Marie-Luise Knott in ihrer Online-Kolumne beim Perlentaucher kein Wort über die aktuelle Debatte verliert: „Berührungslos ziehen die Dichter und ihre wechselseitigen Selbstbeobachtungen ihre Kreise.“ Daher müsse man es auch nicht schlimm finden, dass die Lyrikkritik „vor allem im Internet und in Literaturzeitschriften stattfindet. Aber eben nicht in den Feuilletons, in Radio oder gar Fernsehen. (…) Um für Relevanz zu sorgen, könnte man auch mal anfangen, die Nischengrenzen zu verschieben.“