Teilweise bricht Enttäuschung aus über den aktuellen Spitzentitel des Carl-Hanser-Verlags. Doch an ihm lassen sich zahlreiche Phänomene ablesen, die 2019 die Literatur und die Literaturkritik betreffen. Der Versuch einer Sortierung.
Bereits im Januar dieses Jahres zeigte sich die Rezensenten-Zunft schockiert, als „Stella“ von Takis Würger erschien – der damalige Spitzentitel des Hanser-Frühjahrsprogramms. Jetzt gelten Aufmerksamkeit und Empörung „Miroloi“, dem Debütroman von Karen Köhler, der auf ästhetisch niedrigem Niveau von einer weiblichen Selbstermächtigung berichtet. Anhand dieses Titels lassen sich zahlreiche Phänomene oder Probleme der aktuellen Gegenwartsliteratur und Literaturkritik ablesen. Eine Betrachtung über Hashtags wie #metoo und #dichterdran, die Feuilletonisierung des Easy Read, über alte literarische und neue literaturkritische Kriterien, über die Renaissance des Thesenromans und das Unbehagen gegen verschiedene Formen der Political Correctness.
Das Buch
„Miroloi“ erzählt die Geschichte einer Frau, die den Ausbruch aus einer archaisch strukturierten Inselgesellschaft wagt. Der Roman ist gegliedert in 128 Kapitel, die hier „Strophe“ genannt werden. Das Leben in dieser Gesellschaft ist hart, vor allem für Frauen. Die Hauptfigur darf nicht einmal einen Namen tragen. Häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe scheinen an der Tagesordnung zu sein. Weibliche Bildung wird verhindert – und doch lernt die vorgestellte Frau das Alphabet und Grundformen der Mathematik. Die Erzählung könnte sich interessant gestalten, man denkt möglicherweise an das furiose „Wörterbuch“ von Jenny Erpenbeck aus dem Jahr 2005.
Doch leider ist das Reflexionsniveau der „Miroloi“-Figur im Grundschulalter steckengeblieben, wenn sie beispielsweise fragt: „Gibt es ein Ende von Zahlen? Wenn ich jetzt immer weiter zählen würde, weiter und weiter, komme ich dann irgendwann an eine Grenze? Sind die Götter die höchste Zahl?“ Wenige Seiten später beschreibt sie ihre Sprachfortschritte eben so: „Sagt man O, macht der Mund genau die gleiche Form. Und das B: Zwei Wölbungen wie ein Busen. BBBBBusen. Beim Z muss ich gleich an Zickzack denken.“ Hinzu kommen etliche Stilblüten wie diese: „Ich zerstoße Pfefferkörner im Mörser, wie wächst der eigentlich?“
Die Rezeption
Eine offen negative Bewertung wagt allein Carsten Otte, der im Berliner Tagesspiegel schreibt: „Das ist alles so unwahrscheinlich, und selbst als literarische Zukunftsvision, die mit Regressionen in die düsterste Vergangenheit spielt, nicht wirklich plausibel. So verfehlt die überdeutliche Kritik am Patriarchat ihr Ziel, denn über die komplizierten Geschlechterverhältnisse unserer Zeit vermag die allzu simpel gestrickte Klage über die Barbarei religiöser Fanatiker nur wenig auszusagen.“ (hier). Elke Schmitter nennt den Roman dagegen „ein ungewöhnliches Buch“ (hier). Sandra Kegel vermeidet in der F.A.Z. eine Bewertung (hier). Der NDR macht „Miroloi“ zum Buch des Monats, und zaghaft liest sich die Kritik bei Lisa Kreißler, die urteilt: „An manchen Stellen driftet diese Naivität etwas zu sehr ins Niedliche. Aber Karen Köhler macht sich mit diesem Text stark für die politische Kraft der Erzählung.“ (hier) Es muss gestattet sein zu fragen: Warum wird das Buch dann ausgezeichnet? Im Weser-Kurier nennt Katharina Frohne den Roman wiederum „virtuos“ (hier).
Die Hoch- und die Easy-Read-Kultur
Man muss es offen sagen: „Miroloi“ ist ein naives Jugendbuch für LeserInnen ab 14 Jahre, das sich als Erwachsenenlektüre tarnt, auch Dank der Spitzenplatzpositionierung des Hanser-Verlags. Es steht damit in guter Tradition von Romanen wie „The Circle“ (Dave Eggers, 2013) oder das schriftstellerische Gesamtwerk von Mariana Leky.
Schon immer wurden Romane für die Masse geschrieben, Schnulzen, Schmonzetten und Erbaulichkeitstraktate. Das ist keine Schande. Aktuell irritiert lediglich, wie aufmerksam und emsig das Feuilleton Bücher betrachtet, wie „Die Liebe im Ernstfall“ von Daniela Krien, „Neujahr“ von Juli Zeh, „Dunkelgrün fast schwarz“ von Mareike Fallwickl oder „Stella“ von Takis Würger. Ist das Literatur im eigentlich Sinne, oder nur ein Easy Read für den bildungsbürgerlichen Mittelstand?
Es sind Spitzentitel, die andere Bücher ermöglichen. Daniela Krien füllt die Kasse von Diogenes und finanziert das Werk von Hartmut Lange oder Erich Hackl. Juli Zehs Verkäufe stützen Luchterhand, die auch Franz Hohler veröffentlichen. Die Frankfurter Verlagsanstalt har Mareike Fallwickl und seit jeher Bodo Kirchhoff. Für „Miroloi“ und „Stella“ revanchiert sich Hanser mit Norbert Gstrein usw. Man kann keinem Verlag vorwerfen, dass er seine kaufmännische Existenz im Blick hat. Ungemütlich wird es nur, wenn Bücher neuerdings als Hochliteratur angekündigt und auch verteidigt werden, die zur ernsthaften Kunst im ähnlichen Verhältnis stehen wie das „Lätta“-Streichfett zur Alpenbutter.
Der Kriterienstreit
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rezension zu Karen Köhlers Roman in der aktuellen Wochenendausgabe der taz (hier). Geschrieben hat sie der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, der Professor ist an der Universität Münster – und der seit Jahren ohne Dünkel auf Gegenwartstexte schaut. 2002 erschien seine Betrachtung über den Deutschen Poproman bei C.H. Beck. Aktuellere Veröffentlichungen beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von Pop-Musik und Markennamen, mit der Krawallpunkerin Nina Hagen, es gibt von Baßler Überlegungen zur Serialität am Gegenwarts-Tatort. Er ist Mitglied in der Jury des alljährlich vom Deutschlandfunk vergebenen Wilhelm-Raabe-Preises. Baßlers Arbeiten zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts werden geschätzt. Somit verbindet er Hoch- und Popkultur auf spielerische Weise, das Dünkelhafte ist ihm fremd. Doch ausgerechnet Moritz Baßler verspürt ein Unbehagen gegen den aktuellen Hanser-Spitzentitel: „Wenn das aber Literatur ist, und so sieht’s ja wohl aus, dann hat sich der Literaturbegriff in den letzten Jahren radikal gewandelt und wir brauchen neue Maßstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks. Sie müssten uns helfen zu klären, womit und in welcher Hinsicht ein Buch wie ‚Miroloi’ überhaupt zu vergleichen wäre und wie man dann entsprechend werten könnte.“
#metoo, Feminismus und #dichterdran
Im Raum steht der eher in den Sozialen Medien als in den Feuilletons der Republik geäußerte Verdacht, feministische Literatur werde wohlwollender besprochen als andere Bücher. Hinter hervorgehaltener Hand wird über angebliche Sprechverbote auf ähnliche Weise debattiert, wie im Feld der Neuen Rechten. Natürlich gibt es diese Sprechverbote nicht. Undenkbar ist nicht nur, dass der Hanser-Verlag einen Bann ausspricht über jene, die ihre Spitzentitel kritisieren, noch verhindern Chefredakteure die Veröffentlichung von Verrissen; im Fall „Miroloi“ ist sogar undenkbar, dass wie in Zeiten eines Günter Grass’ Feindschaften entstehen – dafür ist Karen Köhler, die als Schauspielerin, Theaterautorin und Drehbuchautorin arbeitet zu gelassen gegenüber ihrer tatsächlich beeindruckend vielseitigen Kunst; und der Kritik an eben dieser.
Dennoch hat sich etwas verändert. Es gab die Erschütterungen durch #metoo und ganz aktuell durch den Hashtag #dichterdran, der auf humorvolle Weise Rezensionen über von Männern verfasste Literatur umschrieb in einem sexistischen Terminus, der angeblich nur den Rezensionen weiblicher Kunst vorbehalten ist. Man las Sätze wie diesen über Arthur Miller: „Als Ehemann von Marilyn Monroe hatte er keine Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden.“ Oder über Heinrich Böll: „Wenn die Kinder in der Schule, Abwasch und Einkäufe erledigt waren und das Bügeleisen langsam erkaltete, widmete sich Heinrich Böll seinem heimlichen Hobby, dem Schreiben.“ Über die #dichterdran-Aktion berichtete unter anderem die Londoner Tageszeitung „The Guardian“ (hier).
Und wie ein Affront wirkte vor über einem Jahr der „Büchermarkt“-Verriss zu Bettina Wilperts: „Nichts, was uns passiert“, wo im Mittelpunkt eine Vergewaltigung und ihre Folgen stehen. Das Buch bekam Preise, wurde vielfach gelobt, doch Miriam Zeh urteilte am 8. Mai 2018 im Deutschlandfunk: „Das sind alles sicher wichtige Themen, die einer gesellschaftlichen Debatte bedürfen. Diese aber alle in einem Roman unterzubringen, gelingt Wilpert nicht ohne unangenehm didaktischen Beigeschmack. Aus ihren vorbildlichen Rechercheergebnissen hätte Bettina Wilpert lieber eine Materialsammlung für den Gesellschaftsunterricht in der Mittelstufe gemacht, anstatt sich an einem Roman zu versuchen.“ (hier) Ansonsten lässt sich trotz #Frauenzählen, dem Portal zu Frauen in Medien und im Literaturbetrieb (hier) konstatieren, dass 2019 die Wahrnehmung weiblicher Literatur gleichzieht mit dem Geschlechterverhältnis innerhalb der LeserInnenschaft.
Spitzentitel
Ein Blick ins Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zeigt: In der Belletristik-Bestseller stehen auf den ersten vier Plätzen Bücher von Frauen (Karin Slaughter, Cornelia Funke, Isabel Allende, Daniela Krien), in der Top 10 sind Ferdinand von Schirach mit „Kaffee und Zigaretten“ und Rafik Schami mit „Die geheime Mission des Kardinals“ die einzigen Männer. In der Top 20 sind unter anderem Dörte Hansen, Donna Leon und Alina Bronsky. Im Sachbuchbereich zeigen die Platzierungen von Michelle Obama (“Becoming“), Greta Thunberg („Szenen aus dem Herzen“) und die Pilgerreise der Journalistin Susanne Koelbl („Zwölf Wochen in Riad“), dass sich Diskursmächte verschoben haben. Sogar das Männer-Lieblingsthema Nazis usw. wird auf Platz 6 besetzt mit Sophie von Bechtolsheims „Stauffenberg – Mein Großvater war kein Attentäter“. Die Themen nehmen Frauen in den Blick, Opfer statt Täter, die Liebe im Ernstfall statt Martin Walsers Leiden des 74-jährigen Goethe, der sich als Greis an eine Teenagerin ranmacht („Ein liebender Mann“).
Anlasslos
Über die Dauer vieler Jahrhunderte standen die mediokren Ergüsse männlicher Literaten im Mittelpunkt – von Emanuel Geibels „Die Goldgräber“ über die didaktischen und intellektuell niedrigschwelligen Theaterstücke Bertold Brechts bis zum immerhin mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten „Roman unserer Kindheit“ von Georg Klein. In unserer Gegenwart gehen die Auszeichnungen an Inger-Maria Mahlke (Deutscher Buchpreis 2018), Anke Stelling (Preis der Leipziger Buchmesse 2019), Anna Burns (Man Booker Prize 2018), Ilma Rakusa (Kleist-Preis 2019) und Judith Schalansky (Wilhelm-Raabe-Preis 2018) – für teilweise glänzende, teilweise weniger glänzende Literatur.
„Miroloi“ ist nicht nur ästhetisch, sondern auch inhaltlich gescheitert. Als Klage über die Rolle und Situation der Frau in unserer europäischen Gegenwart taugt dieses Buch an keiner Stelle, weil es Probleme erfinden muss, um seine Kampf- und Klagesituation zu rechtfertigen. Anders als im Roman dürfen Frauen im Jahr 2019 studieren – seit über zehn Jahren beginnen in Deutschland mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium. Verfehlungen gegen heilige Schriften werden nicht am Sündenpfahl bestraft, und kein „Angstmann“ zertrümmert Frauen die Beine mit einer Keule aus hartem Olivenholz. Weibliche Masturbation ist keine Todsünde, wird nicht einmal geächtet; man schaue sich nur die Masse feministischer Pornographie im Fahrwasser von Erika Lust, Mia Engberg und Virginie Despentes an. Die Pflege der Eltern übernimmt nicht die an dritter Stelle geborene Tochter.
Absurde Dehnung des discours
Der Begriff „Miroloi“ bezeichnet ursprünglich ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied. Es ist verbunden mit der Passion Christi. Ist Köhlers Buch ein Totenlied auf nicht mehr existierende Formen der Misogynie? Kann „Miroloi“ gelesen werden als Parabel auf die Unterdrückung von Frauen im Niger, im Chad oder Burkina Faso? Warum haben die Figuren dann skandinavische Namen wie Jakup Jakupsohn? Bekanntlich ist Schweden das frauenfreundlichste Land der Welt.
Kurzum: Dieses Buch besteht einerseits aus Redundanzen, Stilblüten und einer erschütternd naiven Sprache. Sein Konstrukt ist andererseits gekennzeichnet durch Logikfehler, einer nicht nachvollziehbaren Kapitelfolge und einer absurden Dehnung des discours. Sein Erzählanlass erschließt sich nur vage.
Wäre „Miroloi“ nicht der aktuelle Spitzentitel des Hanser-Verlags, und würde das Buch ohne das Trend-Thema (Anm. 24.8.: die Floskel ist ein Zitate und bezieht sich auf diesen Tagesspiegel-Text) Feminismus auskommen; kein Hahn würde nach ihm krähen. Für die Literaturkritik taugt dieser Roman – ebenso wie „Stella“ von Takis Würger – allein als Erinnerung daran, dass die Entscheidung, was wann wie groß besprochen wird, bei den Redaktionen und Rezensentinnen liegen sollte, weder bei den Presse-und Werbeabteilungen der Verlage, noch bei Buchhändlerinnen und Buchhändlern oder den Algorithmen von Google Trends. Wir brauchen keine neuen Kriterien, sondern eine Literaturkritik, die sich freischwimmt vom Markt und die sich in eine deutliche Differenz setzt zu den Marketingmaßnahmen der Verlage.
Es ist bekannt in allen Presseabteilungen, dass sich Bücher nicht über Rezensionen verkaufen, sondern über Themen, Schriftstellerportraits, Interviews und: Debatten. Für den Hanser-Verlag könnte es erneut nicht besser laufen als jetzt – und damit ist dieser Beitrag ein manifester Beweis auch dafür, dass wir gerade über ein vom Marketing hingehaltenes Stöckchen gesprungen sind. Dass dieser Beitrag gegen seine eigene These verstößt, ist Ironie des Schicksals eines jeden Literaturredakteurs, und damit das eigentliche „Miroloi“ dieser Geschichte.
Karen Köhler: „Miroloi“, Carl Hanser Verlag, München, 464 Seiten, 22 Euro