An der Geniewerdung des Menschen arbeiten die Programmierer in „Dave“, dem neuen Roman von Raphaela Edelbauer, einem philosophischen Blockbuster, der Kino und Kybernetik miteinander verbindet. Den Leser erwartet eine zeitgemäße Pageturner-Variante eines Ludwig Wittgenstein-Traktats. (Cover Klett-Cotta Verlag, Autorenportrait [c] Victoria Herbig)
Spätestens seit der Franzose Julien Offray de La Mettrie 1748 seine Kampfschrift „Der Mensch, eine Maschine“ veröffentlichte, ist die abendländische Kultur infiziert von der wahnwitzigen Idee, der Homo Sapiens sei nachbaubar. Gipfel dieser Hybris ist das „Human Brain Project“ der Europäischen Kommission, das sich zur Aufgabe gemacht hat, unser Gehirn zu simulieren. Eine ähnliche Idee verfolgen auch jene Programmierer, die in der science-fiktiven Zukunft von Raphaela Edelbauers Dystopie an einer Künstlichen Intelligenz forschen.
„Wir, die Menschen, wollten nicht nur unser eigenes, sondern das Leben an sich und seine unendliche, facettenreiche Intelligenz gestalten. Ein unhaltbarer Fortschritt, eine Kettenreaktion entfaltete sich: Vom simplen Werkzeug gingen wir über zur Gestaltung unserer Lebenswelt; Eine finale Apotheose und als deren Abschluss: DAVE.“
Ein neuer Heiland entsteht
Dave, das ist nicht nur der Romantitel, sondern auch die englische Kurzform des biblischen David, des irdischen Urvaters unserer Christenheit, ebenso die intime Koseform eines anderen Genies, nämlich David Foster Wallace, Meister der postmodernen Romans – auch Edelbauers „Dave“ steht in der Tradition von „Infinite Jest“ und „Der bleiche König“. Mit der künstlichen Intelligenz DAVE soll augenscheinlich ein neuer Heiland entstehen. Die Menschheit wurde nach einer angeblichen Strahlenkatastrophe eingebunkert (vgl. „Dark Universe“ von Daniel F. Galouye). Tageslicht kennen die Überlebenden nicht, darunter der Ich-Erzähler Syz, ein 28-jähriger Programmierer, der in einer Geheimaktion auserkoren wird als menschliches Vorbild der neuen, der künstlichen Intelligenz. Syz, erhoben als Mensch, ist zunächst wie elektrisiert:
„Das Einssein mit der Schöpfung hatte ich stets im Programmieren wiedererkannt, in DAVE wurden wir zum Bestandteil eines zukünftigen All-Bewusstseins – der technischen Transzendenz. ‚Da ward seine Seele entrückt, ob im Leib, ob außer ihm, das wusste er nicht’, schreibt der Mystiker Heinrich Seuse, ‚Wünschen war ihm entfallen, Begehren entschwunden, er starrte nur in den hellen Abglanz, in dem er sich selbst und alles um ihn herum vergaß.’“
Die ganze Nacht verprügelt
Auf über 400 Seiten entfaltet der Roman seine überdeterminierte Geschichte, die von gottspielenden Wissenschaftlern und Simulakren, von Dunkelmächten und von den postapokalyptischen letzten Tagen einer drogenabhängigen Zivilisation berichtet. In diesem Setting werden die traumatischen Erinnerungen von Syz aufgezeichnet, um die künstliche Intelligenz DAVE mit menschlichem Bewusstsein zu füttern.
„’Ich setzte mich an einen der Tische, um den Ordner patrouillierten, die uns über die letzten Minuten hinhielten, ehe der Wettbewerb begann. Dann drehte ich das Papier um, überflog die Aufgaben, realisierte, dass ich sie alle lösen konnte, und –‚ ‚Und was?’ ‚Ich fiel in Ohnmacht‘, sagte ich. ‚Eine Gehirnblutung, wie man später feststellte.’ ‚Bei einem Zehnjährigen?’ ‚Die Wahrheit ist, dass mein Vater mich die ganze Nacht verprügelt hatte.’“
Der Mensch ist elendig
Dass die Größe des Menschen in der Erkenntnis seines eigenen Elend besteht, gehört zu den herausgehobenen Beobachtungen des französischen Philosophen Blaise Pascal – der in einer kurzen Gedankennebenrolle auftritt; genauso wie zahlreiche weitere Denkerinnen und Denker, die mal verdeckt, dann wieder explizit die philosophische Grundierung dieses Actionromans bilden.
„Das Problem lässt sich folgendermaßen fassen: Programmieren heißt festzulegen, wie auf etwas reagiert wird. Bewusstsein auf der anderen Seite (nicht zu verwechseln mit Intelligenz) heißt, sich selbst zu setzen: sich selbst entdecken und darin neu konstituieren, sich anschauen und gleichzeitig Objekt dieses Anschauens sein. (Eine von vielen Tatsachen, die für eine fraktale Lösung des Problems spricht, vgl. dazu S. 234)“
Wie das Myzel eines Pilzes breitet sich die Handlung aus, vorangetrieben durch einen Spannungsplot, der an wissenschaftlichen Abhandlungen vorbeizieht, an gelehrigen Dialogen, die ad hoc in den Duktus von Screwball-Komödien fallen, an psychoanalytischen Sitzungen und Halluzinationen.
Ein dunkles Universum
„Dave“ ist ein Haifischmagen, der die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins ebenso gut verdaut wie Ridley Scotts „Blade Runner“ und den Kinofilm „Her“ von Spike Jonze, ebenso die Meisterwerke von David F. Galouye wie „Dark Universe“ und „Simulacron-3“. Jahrhundertelang fütterten antike Mythen die abendländische Textproduktion. „Dave“ bedient sich stattdessen am neumythologischen Schatz unseres Maschinenzeitalters.
„Für einen Augenblick standen wir verlegen voreinander, als wüsste keiner von uns, wie nun zu handeln sei – und mehr noch: wie wir unser Unwissen über ebenjenes Handeln voreinander verbergen sollten.“
Hier lernen sich zwei Menschen kennen. Eine Standardsituation, oft gelesen und dennoch en passant angereichert mit kybernetischer Kommunikationstheorie. Da handeln nicht nur Menschen, sondern auch Blackboxes.
Inception auf Koks
Dass man diesen Blackboxes folgt auf ihrer Reise Richtung Übermensch, liegt einerseits an der humanistischen Empathie, die Raphaela Edelbauers Roman durchwirkt, andererseits an seiner Dramatik, denn schnell dämmert Syz, dass mit der künstlichen Intelligenz ein böses Spiel getrieben wird.
„Dave“ ist die zeitgemäße Pageturner-Variante eines Ludwig Wittgenstein-Traktats, hochgeputscht wie ein Christopher-Nolan-Film, dramatisch wie eines von „Goldmanns Weltraum Taschenbüchern“: ein geglücktes Philosophie-Experiment im 16:9-Format.
Raphaela Edelbauer: „Dave“, Klett-Cotta, Stuttgart, 432 Seiten, 25 Euro