Nicht alle Kriminalgeschichten vom Eisgürtel Nordeuropas müssen an Henning Mankell erinnern. Jan Costin Wagner beweist das mit seinem aktuellen Roman „Das Schweigen“ mal wieder meisterhaft.
Einen Pullover mitnehmen! Es könnte kalt werden, beim einstündigen Treffen mit Jan Costin Wagner. Das liegt nur indirekt am Autor selbst. Der 1972 geborene Wahl-Finne schaut auf allen Fotos mit warmherzigem Blick in die Kamera. Aber seine Thriller strahlen etwas Frostiges, Unwirtliches aus. Sie berichten nüchtern von Mord, Totschlag und Einsamkeit. Weil das Ganze im kargen, dunklen Turku, einer Südküstenstadt Finnlands spielt, ist Ganzkörperfrösteln garantiert. Da helfen die dicksten Decken nicht. Beim Lesen wird es erst windig ums Herz, dann kühl, kälter bis alles gefriert. Vielleicht liegt darin die ganze Faszination der Romane Jan Costin Wagners. Hier schaut ein warmherziger Autor auf die kaltblütigsten Verbrechen.
„Das Schweigen“ erzählt, wie ein junges Mädchen verschwindet, 33 Jahre nachdem an selber Stelle ein anderes Mädchen ermordet worden ist. Für Kommissar Kimmo und seinen gerade verrenteten Kollegen Ketola scheint der Fall klar. Alle Zeichen deuten auf auf den nie gefassten Täter aus dem Sommer 1974. Das wichtigste Zeichen fehlt aber: Die Leiche des Mädchens wird nicht gefunden. In Ex-Kommissar Ketola erwacht neuer Ehrgeiz. 1974 hatte er den ersten Fall übernommen, das Mordopfer gefunden, den Täter jedoch nie gefasst. Jetzt schimmert da eine zaghafte Chance, die Möglichkeit, kurz nach Dienstende eine quälende Akte doch noch zuzuschlagen. Ist endlich der richtige Moment gekommen, um den Mörder aus seiner Reserve zu locken?
Ein wahnhaftes Spiel beginnt, eher sind es mehrere Spiele gleichzeitig, denn auch der frühere Täter wird aufgeschreckt. Jan Costin Wagner ist ein Profi und verrät natürlich nicht, ob dieser Mann irgendwas mit dem aktuellen Fall zu tun hat. Aber er zeigt, wie ein Mensch aufgrund umfassender Medienberichte durchdreht, die Kontrolle verliert. Auf erschreckende Weise findet „Das Schweigen“ immer wieder Parallelen zu einem realen Vermissten-Fall unserer Tage. Jeder dürfte inzwischen davon gehört haben: Die vierjährige Madeleine ist im Mai dieses Jahres aus einer Ferienanlage in Portugal verschwunden. Ihre Eltern Kate und Gerry McCann starteten eine beispiellose, von viel Prominenz unterstützte Medienkampagne, um ihre geliebte Tochter wiederzufinden.
Inzwischen geht die Polizei davon aus, dass dieses Mädchen tot sein könnte. Alle Zeitungen, Magazine, Fernsehsendungen berichten seitdem. Die Unwissenheit martert einen ganzen Kontinent. Im Roman ist es auch Ungewissheit, die in wenigen Tagen das Leben etlicher Familien auf links dreht. Jeder verdächtigt jeden. Beim Kindsmord funktioniert die Vernunft nicht mehr. „Das Schweigen“ baut um alle Menschen eine Mauer. Die Kommunikation stirbt ab. Kommissare handeln auf eigene Faust. Eine Ehe scheitert. Alte Trauer bricht auf. Aber wo ist das gesuchte Mädchen? Und warum wissen ihre Eltern nicht, was mit ihr los war, in den Wochen vor ihrem Verschwinden? Dieser Roman schaut nicht in einen Abgrund, sondern in erschreckend viele Abgründe. Und das Schlimme ist: Dieser Abgrund schaut zurück. Nicht in die Augen der Kommissare, sondern in die Augen der entsetzten Leser. „Das Schweigen“ ist ein meisterhafter Krimi, ein unglaublich gutes Buch, große Literatur.
Jan Costin Wagner: „Das Schweigen“, Eichborn, 284 Seiten, 19,90 Euro