Man kann dem eigenen Ende mit Spott entgegensehen – das zeigt Ulrich Koch in seinen neuen Gedichten, während sich ein „Flügchen“ in Eva Maria Leuenbergers „die spinne“ schockstarr einer Katastrophe ausgesetzt sieht: so ähnlich sind die Lyrikbände des Monats September angelegt, heute im Deutschlandfunk „Büchermarkt“ mit meinem beiden Gästen Beate Tröger (sie schoß auch das Beitragsbild) und Alexandru Bulucz.
Titel-Genie Ulrich Koch kommt nach Veröffentlichungen wie „Lang ist ein kurzes Wort“ (2000), „Uhren zogen mich auf“ (2012) und „Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“ (2021) mit seinem „Letzte Hilfe Kurs“ – einem siebenteiligen Reigen, überschrieben mit Sätzen wie diesen: „Ich glaube, du hast die Welt durch den Ausgang betreten“ oder „Im Totholz sonnen sich Pilze auf dem Höhepunkt ihrer Macht“. Der Hugo-Ball-Förderpreisträger von 2011 (wie passend) zwingt existentielle und profan-moderne Probleme in überraschende Bilder, Videokonferenzen werden mit einem Medusenhaupt verglichen „aus zwei Dutzend Köpfen, unausgeschlafen, abgeschlagen“ und ein Dichter-Alptraum so beschrieben: „Ich habe Angst, schlafzuwandeln / und in diesem Gedicht einzuschlafen / und im nächsten Gedicht aufzuwachen“. Alltägliche Phänomene wie „die Wundräder der Marmeladengläser“, werden endlich katalogisiert. Spöttelnd ist dieser Band selbst den Kollegen gegenüber: „Dieser unbezahlbare Augenblick, wenn ihr zum Telefon stürzt / und auf den Anruf einer Jury hofft! Und dann / bin es nur ich, euer Kundenbetreuer des Vertrauens (…) Ihr mit der Triage eurer Terzinen, / den Fassbomben und Honigbienen“, während er seinen eigenen Versen Übersinnliches zutraut: „Ich trage mein Notizbuch / in der Brusttasche, falls es knallt. / Es ist so eng beschrieben, / dass jede Kugel abprallt“, um sogleich alle Leserinnen und Leser zu motivieren wie ein Lebenscoach: „Nimm die Versprechungen der Morgensonne, / wenn aus den Massagesalons in den Souterrains / der Minzgeruch der Desinfektionsmittel weht / wie aus einem Mund mit frisch geputzten Zähnen“. Das Menschlich-Allzumenschliche ist dem lyrischen Ich dieses melancholischen Bandes wohlvertraut, die Transzendenz allen Da-Seins manchmal nur ein Achselzucken wert. Sollten uns Dialoge wie dieser wiederfahren: „’Warum besuchst du mich so selten?’ – ‚Weil mich deine Einsamkeit zu sehr bedrückt’“, halten Kochs Gedichte wenigstens diesen alkoholischen Trost bereit: „Verpoorten allerorten“. Ulrich Koch: „Letzte Hilfe Kurs“, Jung und Jung, 176 Seiten, 24 Euro
die spinne
Flügchen heißt die zentrale Figur in Eva Maria Leuenbergers drittem Lyrikband, ein Wesen, das seit langer Zeit in einem verlassenen Raum liegt, „auf dieser matraze, / unter weißem tuch, / mit dem rücken, / flügellos, / gegen die zeit.“ Flügchen ohne Flügel – vielleicht ein Mensch, vielleicht ein Fabelwesen – ist in Schockstarre, aber auch in eine schreckliche Düsternis gefallen. „du hast den himmel schon lange nicht mehr gesehen. / hast zuerst die gardinen geschlossen, / dann die augen, den mund.“ An der Decke hängt eine Spinne, webt ihr totbringendes Netz: „sie ist groß, und alt, / und vielleicht / beinahe schwarz. // manchmal / schaust du sie an / und denkst: / ich könnte / mich ergeben.“ Die 1991 in Bern geborene Leuenberger sperrt für ihren dritten Band Flügchen und Spinne als Widersacher in ihren (Labor-)Raum. Die Leserinnen und Leser schauen wie vor einem Bildschirm sitzend zu, wollen eingreifen, können es nicht, sind gleichfalls Ausgelieferte. Arachnophobiker werden der Szenerie mit ansteigender Beklemmung folgen und sich fragen, weshalb ein Wesen in derartige Hilflosigkeit gezwungen wird. So weckt „die spinne“ schauerliche Assoziationen. Anklänge an Jeremias Gotthelfs Novelle „Die schwarze Spinne“ sind hörbar, man kennt den Versuchsaufbau auch von Edgar Allen Poes 1842 verfasster Kurzgeschichte „Die Grube und das Pendel“: Ein Häftling, von spanischen Inquisitoren verurteilt, sieht sich in einem düsteren Raum gefangen. Über ihm ist keine Spinne, sondern ein scharfes Pendel, das stetig tiefer von der Decke herabgelassen wird. In der Mitte des Raums ist eine Grube, ein Sturz hinab würde den Tod bedeuten – Und weil die Gefängniswände auch immer näherkommen, den Häftling in die Enge, zur Grube hin treiben, scheint das Verderben des Häftlings unausweichlich. Leuenbergers Flügchen war, wie dieser Häftling Edgar Allen Poes, nicht immer hilflos. Das Wesen war einst von Hoffnung erfüllt, tätig, voller Elan:
„schau dich um: du hast dich in die namen geordnet. / hast dich zerteilt, den perforationen entlang, dich / liegen gelegt, an den zugeschriebenen orten. / gib es zu. du wolltest nichts anderes als schön zu sein / und gut. gib es zu. wolltest die schönheit verschlingen, / die körper verschlingen. / gib es zu.“ Doch jetzt hat Flügchen ein Problem. Man könnte spekulieren, ob dieses Wesen die Evolution symbolisiert, den Aufstieg des Homo sapiens. Man könnte diese Figur mit Ikarus vergleichen, der aus seiner Gefangenschaft vermittels selbstgebauter Flügel fliehen wollte – und abgestürzte, weil er sich trotz aller Warnungen übermütig der Sonne genähert hatte. Der Anspielungsreichtum in diesem Langgedicht oder Reigen ist überbordend, die Diktion aber sparsam-zurückgenommen, auf einfachste Wörter bedacht. Die konsequente Kleinschreibung ist kein Manierismus, sondern auch ein Zurücknehmen, sich nicht größer Machen, kein Erheben über diese klägliche Situation, in der Flügchen mit der drohenden Spinne steckt, während auch draußen die Welt in äußerst argem Zustand ist. Es gibt „die eine oder andere explosion“, Bäche liegen brach, „die frösche, deren sprache / unter den steinen klemmt, / gerben in der hitze“. Der Kastanienbaum vor Fenster „lässt die ersten früchte fallen“, offensichtlich nicht, weil der Herbst anbricht. Der Baum scheint vom Feuer bedroht. In dieser Zusammenschau – der Haftsituation, den Evolutionsanklängen, der Ikarus-Sage – wird Flügchen zum Zeitgenossen einer vermeintlich „Letzten Generation“, erstarrt angesichts zahlreicher Katastrophen. Keine Wissenschaft, keine Kunst oder Religion kann diesem Wesen helfen, sodass am Ende dieses enigmatischen, aber auch so einfach zu lesenden, dieses ebenso jungen wie erstaunlich reifen Bandes einzig eine Hoffnung bleibt: „flügchen: du wirst das ende nicht sehen“ – und ein frommer, humanistischer Wunsch: „trotzdem. / bleib hier. / bleib.“ Dieser Band ist offensichtlich: dem Menschen gewidmet. Eva Maria Leuenberger: „die spinne“, Droschl, 96 Seiten, 21 Euro