Das Lyrikgespräch im März

Es wird sie immer geben, die „Vonne Endlichkait“, mit der sich Günter Grass poetisch im Todesjahr von seinen Lesern verabschiedete. Jeder ist „Sein und Zeit“ unterworfen – daran erinnern die beiden Bände des Lyrikgesprächs im Messemonat März, vorgestellt von Beate Tröger und Alexandru Bulucz: mit der „Autobiographie des Todes“ von Kim Hyesoon, Grande Dame der südkoreanischen Literatur, und den nachgelassenen „Variationen über ein Thema von Silfverstolpe“ des großen Schweden Lars Gustafsson.

„In der Pfanne frittierst du / heute Nacht Mutters Hände.“ Wie kommt es zu derart martialischen Zeilen in den 49 Gedichten der Südkoreanerin Kim Hyesoon, die in ihrer „Autobiographie des Todes“ über Sterblichkeit nachdenkt? „In einem Mythos aus Jeju gibt es eine Mutter, die selber ins kochende Wasser springt, weil die Familie nichts mehr zu Essen hat“, erzählt die 70-Jährige im angehängten Interview, das die Bilder des Bandes einordnet – und am besten vor den Gedichten gelesen wird: „Eine weiße Häsin stirbt und wird eine rote Häsin. / Sie verblutet noch im Tod. […] Manchmal wird die tote Häsin als blutige Monatsbinde wiedergeboren. / Dann kommt es vor, dass du eine tote Häsin aus der Unterhose ziehst“. In der buddhistischen Lehre existiert der „Bardo“, ein postmortales Zwischenreich, in dem wir für die Dauer von 49 Tagen verbleiben. Dorthin begibt sich Hyesoons „Autobiographie“, die in narrativen Gedichten Orte des Todes besucht, aber auch Depersonalisationen in Bilder zwingt, Ich-Auflösungen beschreibt. Eine persönliche Nahtoderfahrung hat Kim Hyesoon sensibilisiert. „Dichter sind Wesen, die eine apriorische Einsicht in den Tod besitzen; Wesen, die ihr eigenes Ende schon vorher leben“, sagt sie. Ihre Gedichte wirken wie Traumprotokolle, vormoderne Visionen, tief in der dichotomischen koreanischen Kultur verwurzelt, in der Konsonanten dem männlichen, Vokale dem weiblichem Raum zugerechnet werden. „Als meine Mutter in Hospizpflege lag, unfähig zu sprechen, konnte ich hören, dass ihr Krankenzimmer immer mit einem Vokal gefüllt war. Als wäre dieser Vokal ihr letztes Wort.“ Alles ist hier beseelt, auch wenn die Übersetzung das lautmalerische Koreanisch nur näherungsweise nachahmen kann. „Du sollst hören, höre die Stimme vom schneebedeckten Buksan / Erloschen ist die Kerze in deinem Körper“. Diese „Autobiographie“, die nicht – wie alle anderen Autobiographien – vom Leben berichtet, stellt uns unweigerlich ins „Horror vacui“. Man braucht Mut, um diesen Gedichten zu begegnen. Kim Hyesoon: „Autobiographie des Todes“, aus dem Koreanischen von Uljana Wolf und Sool Park, S. Fischer, 160 Seiten, 28 Euro

Go West!

Der schwedische Autor und Philosoph Lars Gustafsson ist im Frühjahr 2016 gestorben, berühmtgeworden durch Bücher wie den „Nachmittag eines Fliesenlegers“ oder „Der Tod eines Bienenzüchters“. In den Nachrufen wurde seine Warmherzigkeit betont, die auch jene 1995 im texanischen Austin entstandenen „Variationen über ein Thema von Silfverstolpe“ auszeichnet. Dieses Thema des hierzulande kaum bekannten Lyrikers Gunnar Mascoll Silfverstolpe (1893-1942) steht zuvorderst: „Es war die Zeit, in welcher jede Stunde noch eigne Kraft besaß, die zu erobern war.“ Den kraftvollen Stunden ist unsere Schwäche eingeschrieben. Schatten streichen durch den Midsommar, sie ähneln einander, wie Bach’sche Variationen. Sie erscheinen als Villanella, Arie, Rezitativ, als Fuga canonica: „Vier Uhr; / späte Nacht oder früher Morgen, / der Wind weht gegen das Haus, / die Türe schlägt, / in meinen Armen liegt auf einmal / eine seit Langem tote Freundin. / Mit dem Mund nah an ihrem Hals / spüre ich die Wärme der Lebenden, / spüre ich jetzt die Wärme, / die übrig bleibt. / Und einen Augenblick lang bin ich tot, / sie lebendig.“ Es sind zwei kurze Zyklen: „Die Bruderschaft der Stunde“ und „Inventionen“, zunächst wie aus der Ferne auf unsere flüchtige Existenz schauend, von der Wiege bis zur Bahre: „Früher oder später kommt der Mensch, / der unseren Tod mit sich trägt.“ Dieser wird der letzte Lebende sein, der unserer ansichtig wird. Der zweite Zyklus schreitet zur Tat, er ist „mit dem Rücken nach Osten“ geschrieben, mit Blick zum verheißungsvollen Westen also, den 1993 die „Pet Shop Boys“ besangen, im triumphalen Glauben, das Ende der Geschichte sei erreicht. „Die Karte, die man ausgespielt hat, liegt. / Ein ungelesenes Kapitel ist und bleibt ungelesen.“ Dieser sorgsam edierte Band zeigt, weshalb unser kurzes Leben nicht nur beschrieben, sondern geradezu körperlich erfahren werden muss: „Der Leib erinnert. Doch sah die Seele Bilder nur.“ Lars Gustafsson: „Variationen über ein Thema von Silfverstolpe“, aus dem Schwedischen von Kristina Maidt-Zinke und Stephan Opitz, mit einem Nachwort von Heinrich Detering, Wallstein, 78 Seiten, 20 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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