Weltliteratur und österreichische Kleinkunst kommen an diesem Dienstagnachmittag im Deutschlandfunk-Büchermarkt zusammen. Mit Maren Jäger und Christian Metz spreche ich ab 16:10 Uhr über das „Gedicht für den unvollkommenen Menschen“ der israelischen Dichterin Agi Mishol und „loop garou“ von Stefan Schmitzer aus Graz.
Mit Agi Mishols „Gedicht für den unvollkommenen Menschen“ liegt erstmalig ein deutscher, 2003 einsetzender Auswahlband dieser israelischen Ausnahme-Lyrikerin vor. Das jüngste Stück „Schutzraum“ ist nach dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober entstanden, kein weiteres seitdem: „Jetzt wo rundherum Tod kriecht / und Pekannüsse sich in ihre Schalen drücken / verstecke ich mich im Hebräischen“ steht direkt neben dem Siedlungsprojekt kritischen „Olivenbaum“: „Seine Oliven – dargeboten und doch verschmäht – / schwärzen / mein Gesicht / und keine Zwergrosen lenken mich ab / von dieser Schande“. Flora und Fauna (vom Albatros bis zur Zikade) verschmelzen in diesen 90 durchweg gelungenen Stücken mit der Geschichte Israels. Mishol lebt als Bäuerin mit ihrem Mann an der Grenze des Gaza-Streifens, sie ernten Granatäpfel und Persimonen, eine Kaki-Art. Ihre zugänglichen, von Anne Birkenhauer eingängig übersetzten Gedichte erinnern an Prosa, sind umgangssprachlich im Original, mal privat-persönlich, dann wieder gesellschaftspolitisch, ernsthaft, versunken, in kontrastierenden Momenten satirisch.
Es gibt Erinnerungen an den Vater („Mein Vater / vor seinem Tod / setzte sich plötzlich erschrocken auf / als wolle er jemanden empfangen“), an eine junge Selbstmordattentäterin („Du bist erst zwanzig / und deine erste Schwangerschaft ist eine Bombe.“), an die Shoah, die Mishols Eltern knapp überlebten („Nur ihr beide / Mama und der Tischler / kennt das Versteck / in der Tiefe des Schranks. // Außer deinem Diamantring / und der Doxa-Uhr / versteckst du dort / für jede Unbill die hoffentlich nie kommen wird / auch ein Bündel Geldscheine / man kann ja nie wissen“). Ein Esel mit Bombenlast kommt ins Paradies und „zweiundsiebzig unbefleckte Eselinnen / leckten seine Wunden.“ Hier kann die Sehnsucht „sogar / in einer Zwergkarotte / Zauber entfachen“. Ein Band ausnahmsloser Stärken. Die Edition Lyrik Kabinett bleibt auch im achtzehnten Jahr ungebrochener Garant für herausragende Entdeckungen. Agi Mishol: „Gedicht für den unvollkommenen Menschen“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, mit einem Nachwort von Ariel Hirschfeld, Edition Lyrik Kabinett, München, 112 Seiten, 24 Euro
Stromlinienförmige Vulven
Als Invokationen – Gottesanrufungen – bezeichnet der 1979 in Graz geborene Stefan Schmitzer seinen Lyrik-Prosaband „loop garou“. Das titelgebende Wortspiel verweist auf den französischen Werwolf, den musikalischen Loop, auf jene belgische Holzachterbahn, die ebenfalls mit dem Gleichklang loop/loup spielt. Die angerufenen Götter sind große Österreicher (Sigmund Freud, Arnold Schwarzenegger) und mythologische Figuren der Antike (die euleneugige Athene, Aphrodite, Haphaitos, der griechische Gott des Feuers). Meditative Für- werden zu Fluchbitten: „seine texte umfassen erstens den namen des bittstellers / das ist das lyrische ich zum zweiten den namen der / gottheit das ist das bundesministerium für kunst kultur / öffentlichen dienst und sport oder sollte da stehen / publikum“), die Seite für Seite derber, auch sprachlich sinnverrückter erscheinen: „träum fesch feschm hausfarau / taräum feschn hausfarau rau“ inkl. mythologisch überhöhtem Hass auf Kleinfamilien, wie im Gedicht „invokation von hera mit den weißen armen“, wo Eltern mit ihren Kinderwägen auf ein misanthropisches, lyrisches Ich treffen, das sehr österreichisch schimpft über „stromlinienförmige pimmel / und stromlinienförmige vulven / denen stromlinienförmige babies entgleiten“.
Anspielungsreich ist der informierte Horizont, von Benns „Letzter Frühling“ mit seinen Forsythien bis zu Homers „Ilias“ und die berühmt gewordene Beschreibung des Achill-Schildes. Lyrik zwischen William S. Burroughs, H.C. Artmann und Ernst Jandl, versponnen wie der Name von Schmitzers experimenteller Musikformation „fun + stahlbad“ (mit Bassist Michi Merkusch und Avantgarde-Komponist Denovaire). Nach einigen zaubermächtigen Wortquadraten (mehr Teekessel, weniger Sator/Tenet) folgt ein absurder Prosareigen, wo Käfer auftauchen, die über Linguistik debattieren und Giraffen mit Hasen-Gummimasken. Absurde Sprachkunst aus dem Umfeld der verdienstvollen Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“. Anspieltipp: Schmitzer rotzige Lyrikline-Lesungen. Laut gelesen = doppelter Spaß: „schau mutter sie haben so fette motoren / die machen rmml rmml rmml rmml brmm brmm brmm“ Stefan Schmitzer: „loop garou. invokationen“, Ritter, 96 Seiten, 15 Euro
Das Lyrikgespräch mit Maren Jäger und Christian Metz kann hier nachgehört werden