Das Lyrikgespräch im Februar

Zum 50. Todestag des Wahl-Kölners Rolf Dieter Brinkmann kommt die halb-spektakuläre Veröffentlichung weiterer „Westwärts 1&2“-Gedichte – für satte 52 Euro. Preis- und lohnenswerter ist Ines Berwing, die mit „zertanzte schuhe“ ihren zweiten, durchaus märchenhaften Lyrikband vorlegt – heute ab 16:10 Uhr im Büchermarkt mit meinen Gästen Maren Jäger und Beate Tröger.

Man denkt an Aschenputtel, doch „Die zertanzten Schuhe“ ist ein eigenständiges Märchen der Brüder Grimm: Zwölf Königstöchter schleichen sich nachts aus dem Schloss und feiern in der Unterwelt mit zwölf verwunschen Prinzen. Sie wollen ihre Liebsten beizeiten zu erlösen. Der Vater sieht morgens bloß die zertanzten Schuhe: „Da ließ der König ausrufen, wer könnte ausfindig machen, wo sie in der Nacht tanzten, der sollte sich eine davon zur Frau wählen und nach seinem Tod König sein; wer sich aber meldete und es nach drei Tagen und Nächten nicht herausbrächte, der hätte sein Leben verwirkt.“ Nach zahlreichen Versuchen (und Hingerichteten) verhält sich ein armer Soldat überaus listig, sodass er den Töchtern in die Unterwelt folgen und Beweisstücke entwenden kann – er wählt am Ende die älteste Tochter. „Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach des Königs Tode versprochen. Aber die Printen wurden auf so viel Tage wieder verwünscht, als sie Nächte mit den zwölfen getanzt hatten.“ Fraglich bleibt nahezu alles. Weder wird erläutert, weshalb die Prinzen verwunschen wurden, noch, weshalb die Töchter an ausgerechnet diesen hingen, und warum stellt sich der König so vehement gegen die Lebenspläne seiner Kinder? Man denkt bei den Ausbrüchen an Selbstermächtigungen, an jugendliche Rebellion und männliche Unterwerfungsphantasien, an Helikoptereltern und Disco-Jugendkultur. Ines Berwings Band greift peu a peu einzelne dieser so rätselhaften Motive auf: ein „spukschloss“, die tanzenden, „durcheinandergeworfenen gliedern“, ebenso „mehrere männer“, „umwerfend schöne walzer übers parkett“, „aufseher“, dreimal auch: „zertanzte schuhe“ (auf dem Cover, in einem Gedicht, als Titelüberschrift eines anderen). Hier artikuliert sich eine Sehnsucht nach vergangenen, mirakulösen Verhältnissen, die im strengen Widerstreit zu aktuellen Emanzipations- und Autonomiebestrebungen stehen (treffend beobachtet in Margarete Stockowskis diesjährigem Valentinstags-Essay: „’Wir wollen keine Blumen…’ – ach, sicher?“) Bei Berwing sind es acht Zyklen, die zusammengehalten werden durch das verwunschene Märchen, ungereimt, mit zahlreichen Enjambements.

Diese Erinnerungs-, Traum- und Situationsgedichte bergen tiefere Geheimnisse, sie steigen in Anderswelten hinab wie die Prinzessinnen, besuchen auch eine „Märchenfabrik“, in der romantisch-blaue Anlehnungen, Unterweltbilder (ein Tränenbaum, auch Teufelszunge genannt), und Verse der belarussischen Lyrikerin Valžyna Mort (mit ihrem „Tränenfabrik“-Gedicht) zu einem ebenso utopischen wie real-kapitalismuskritischen Strauß gebunden werden: „der tränenbaum und die tränenfabrik sind zu 50 % / geladene gäste. ich stach meiner not in den hals // bis sie ein notenhals wurde und ich stark. ich war / einem tränenbaumgast nah, um den hals trugen wir 50 % // wir hatten einen fabrikstich, dessen blau uns nur selten / betrog. wir hatten einen beruf. er war blau. // es gab uns also. im träumchen. wir produzierten / 50 % aller tränen und anderen abfall. niemand erschrak“. Erschreckend gut sind diese Gedichte von Ines Berwing, die ihren eigenen Sound gefunden, weiterentwickelt hat, die stets mehrere Ebenen in ihre Lyrik einzieht, Tradition mitbedenkt, das Phantastische würdigt und – so steht zu vermuten – auch die eigene, ganz persönliche Lebenswelt einbezieht. Es kommen überraschend viele Träume (der „kalktraum“) vor, es wird oft geschlafen: „wenn ich im märz noch schlafe / dann lösch alle bäume im hof“. Vielleicht artikuliert sich hier ein Wunschdenken der noch jungen Mutter, die Ines Berwing tatsächlich ist. Vorstellbar, dass einige der Gedichte Wachträume sind, ein Nachdenken über all das, was wir unseren Kinder weitergeben: „mein erbe ist ein großes meer aus angst / und ich bette meine schlafende mutter / ihre handtellergroßen pupillen auf ein hartes // leuchtendes meer, das wir mit einer zange / zerlegen wie alte träume, die wir entsorgen. / müll im meer, meine schlafende mutter“. So liest sich dieser Band auch wie eine Warnung, die sich das lyrische Ich selbst geben mag: Sei niemals wie einengend, kontrollierend, wie der königliche Vater im Märchen der Brüder Grimm! Ines Berwing: „zertanzte schuhe“, Schoeffling, 112 Seiten, 22 Euro

Die Neuausgabe von Rolf-Dieter Brinkmanns „Westwärts 1&2“ ist anschlussfähig an Ines Berwing, mit dieser ans Märchen erinnernden Zeile: „Bist du weinend am Morgen aufgewacht & hast / nicht gewußt, worüber du weintest, warum? Weil / der Traum vorbei war, und du hast auf das Paar / umgekippte Schuhe geschaut?“ 50 Jahre sind vergangen, seit eben jene Verse für einen Band geplant waren, der posthum zur Aura des streitbaren Poeten beitragen sollte. RDB wurde am 23. April 1975 beim Überqueren der Straße in London von einem Auto erfasst. Er hatte vergessen, dass in Großbritannien Linksverkehr herrscht. Die ursprüngliche Fassung erschien wenige Wochen später in einer stark gekürzten Ausgabe, 2005 als erweiterte Neuauflage, dieser Tage in neuer Aufmachung, mit wiederum anders gesetzten Fotos des Autors, die Bahnsteige, Waldstücke, junge Frauen zeigen, ergänzt um Gedichte aus dem Nachlass „auf ein Stück Packpapier geschrieben“. Alltagsmitschriften (1.9.1974: 37 Min. nach 1 Uhr nachts, zerlaufenes / Mondlicht auf den Dächern, über der Engelbertstr. / Pfützen, Häuserwände“), wie so oft bei RDB wild gesetzt mit Leerstellen, geschnipselt, collagiert. Popkulturelles steht neben der Betrachtung verschleierter, türkischer Frauen, die Gemüse sortieren. Das war: Schreiben, was ist! Wut bricht aus zahlreichen Zeilen, und doch werden dem Prekariat schöne Bilder abgetrotzt: „Mitten / auf der Straße / die Frau / in dem blauen / Regenmantel.“ Brinkmann erhielt posthum den Petrarca-Preis. Die 20.000 Mark hätte er zu Lebzeiten bitter nötig gehabt. (Peter Handke hielt die Laudatio.) Brinkmann, am 16. April 1940 geboren, nach eigener Mutmaßung „in den ersten Kriegstagen zusammengefickt“, steht zum US-amerikanischen Beat Poet-Einfluss, zur lyrischen Westbindung, erinnert ebenso (in einem bislang unbekannten Gedicht) an Ossip Mandelstam. Niemals geht ein Raunen durch diese Zeilen, in einer Zeit der letzten Weltkriegsruinen entstanden, während Italien mit seinen wiederum antiken Ruinen zum Sehnsuchtsort der Deutschen wurde. An der Sonne sah sich dieser Dichter nie. „Man bewundert Ruinen (die Gegenwart nicht).“ Rolf Dieter Brinkmann: „Westwärts 1&2“, Rowohlt, 448 Seiten, 52 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

Empfohlene Artikel