Eine bahnbrechende Twitteratur-Genealogie und die Exkursion durch ein lebendig wirkendes Haus … die beiden Bücher des Lyrikgesprächs im Monat August sind Clemens J. Setz’ „Das All im eigenen Fell“ und Saskia Warzechas „Farbleib“. Sie stehen zur Diskussion im Deutschlandfunk-Büchermarkt mit meinen Gästen Maren Jäger und Alexandru Bulucz (das Beitragsbild ist entstanden in der Kölner Buchhandlung Klaus Bittner).
„Saxofone letztendlich / auch nur / Ritterrüstungen für Aale“. Büchnerpreisträger Clemens J. Setz packt den Schalk im Nacken und adelt die besten Poesietweets der vergangenen Jahre – eigene und die seiner liebsten Accounts. „Ein Buch muss sein der Warentrennstab / für das gefrorene Meer in uns“. Er beschreibt eine „völlig neuartigen Lesekultur, die bis vor kurzem gar nicht existierte. Man stelle sich die Frage: Gibt es eine Autorin, einen Autor, die oder den ich buchstäblich jeden Tag lese? Und nicht einmal immer dieselben Texte, sondern tatsächlich jeden Tag etwas Neues.“ Auf wenigen Seiten rubriziert dieses Kompendium einige der kreativsten Lyriktweets, die in vielen Fällen unauffindbar sind, weil Elon Musk inaktive Accounts löscht, Autorinnen und Autoren aufgegeben, ihren Feed geschlossen haben, weil sie aus fadenscheinigen Gründen gesperrt worden sind. Es sind Accounts von bis heute unbekannten Literaten, die sich weder für Wettbewerbe, noch für Buchverträge interessierten. „Aber sie hatten eines: eine zum Teil in die Zehntausende gehende Leserschaft.“ Setz zeigt Emoji-Gedichte, neue Weisen des Gebrauchs deutscher Artikel („So viele Grillen in so Wiese wie man in Butter / machen könnte Brotzeit deger oder nicht“). Er antwortet auf Werbetweets von OnlyFans-Girls und Supermarktketten, erinnert an Objet trouvés, wie diese, in Versen umgebrochene Headline aus der Washington Post: „Six jars of human tongues / were found / underneath a Florida home / courtesy of / a forgetful professor“.
Setz kombiniert die Verse mit Bildern. Verweise (Links) werden augenfällig: „Mein Hut ist grün it’s getting dark / beim Rätselhefteverbrennen im Park“ (das ist natürlich Georg Kreisler; „Der Frühling, der dringt bis ins innerste Mark / Beim Tauben vergiften im Park“) oder beim HERBST-Gedicht: „Der Sommer hängt am letzten Apfelstängel / Ich fühle mich als hätt ich Nährstoffmängel / Der Ast vorm Fenster hat im Schlaf geweint / Wann kommt der Winter Frage für ein Freund“. Da scheinen Else Lasker-Schüler und Rilkes melancholischer „Herbsttag“ durch („Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“). „Gibt es überhaupt irgendeinen schreibenden Menschen auf der Welt, von dem ich täglich so viel las wie von @susi bumms, @carlsparla oder @donculotte? Ich glaube nicht. Und doch würde ich wahrscheinlich, nach meinen ‚Lieblingsautorinnen’ gefragt, etwas antworten wie: Alice Munro, Ivy Compton-Burnett, Christa Reinig oder Marie-Luise Scherer. Schon seltsam.“ – Mit Links zu Thomas Lovell Beddoes, Oskar Loerke, zum verschollenen Sappho-Werk und den Arbeiten des exzentrischen Schotten Ian Hamilton Finlay (1925-2006), der lange vor Twitter auf Gartenmauern und Grenzsteine an Tweets erinnernde Sätze wie diese notierte: „Every sensible person feels sorry for a passenger plane“. Dieses Buch ändert – schrecklich amüsant – den Blick, die Begriffe, ein unendlicher Spaß mit neuen Rezeptionsideen und einer letzten Erinnerung an die ersten Lockdown-Monate, eingefangen in ein internetaffines, prägnantes Bild: „Es geht ein Mond durchs Treppenhaus / als würde er hier wohnen / Um 18 Uhr beginnt Applaus / ringsum auf den Balkonen“. Clemens J. Setz: „Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitter-Poesie“, Suhrkamp, 184 Seiten, 23 Euro
Farbleib im Jetzt-Haus
„Was wir Form nennen, ist die Grenze zwischen einzelnen Farben“. Dieser Satz Vilém Flussers steht am Ende von Saskia Warzechas zweitem Lyrikband „Farbleib“, einem Langgedicht (das gar nicht so lang ist, rund 6500 Zeichen). Es denkt nach über Grenzen und Entgrenzungen, über Formen, Territorien und Deterritorialisierungen – entlang eines Hauses, das verschiedentlich begutachtet, erstöbert werden kann: „und Gelenk / wie betrachtet man Bögen? / die Erdkugel schleicht um die Sonne der Farbleib wartet im Haus // vier Achsen vier Streben / unter separierendem Licht unterm Dach / der Zögling streift durch den Garten / sucht Guckkasten Gegen- / zarge und –läden / und lehnt sich an ans Scharnier“. Vielleicht muss man sich dieses Gebäude wie das paralogische „House of Leaves“ von Mark Z. Danielewski vorstellen, das innen ein paar Zentimeter größer ist als die Außenkanten erlaubten. In Warzechas Haus gibt es Luken zum Jetzt, ein „Da-Geschoss“, „im Mauerwerk / ein Zeigerstein“, „Hebelfiguren“ (statt gymnastischer Hebefiguren), Hierscharniere usw., seltsame Verbindungselemente, Ausguckpunkte, weirdes Baumaterial. Von einem „Netzhaus“ (statt der Netzhaut) ist die Rede.
Den Bauplan muss jeder selbst zeichnen, je nach Blickwinkel sieht alles anders aus, könnte drei- oder vierdimensional sein, ein Cyberspace anderer Zeitrechnung: „am Jetzt-Nagel hängt das Heute-Bild“. Es gibt Drehtüren, Scharniere, Strickleitern, Fenster, ein „Zögling“ streicht umher, eine Person, die „Farbleib“ (klingt wie „Verbleib“) gerufen wird, als Melange aus „bleibt // farbig / Leib / und bleibend“. Auch das Haus ist personifiziert: „das Früher-Haus geht / das Später-Haus steht / statt / dies Haus ist gegangen / das Haus wird bestehen“. Warzecha ist studierte Computer-Linguistin, kann sich behände in spekulativen Räumen bewegen und radikalkonstruktivistisch oder naiv schauen, beschreiben, fragen – ein Band, der nachmittagsfüllend ist, ein Rätsel über Rätsel: „wie wurde der Fisch in die Tiefe getauft / der Vogel nach oben gehoben // wie werden Zaubersprüche symmetrisch verfasst?“ Posh! Saskia Warzecha: „Farbleib“, Matthes & Seitz, 80 Seiten, 18 Euro
Hier kann das Dlf-Lyrikgespräch mit Maren Jäger und Alexandru Bulucz nachgehört werden