Das letzte Wort hat Goethe

Die „Fack ju Göhte“-Filme und die Faust-Hommage von Jan Böhmermann sind Ausläufer einer sehr alten Goethe-Verehrung. Vor 275 Jahren wurde Deutschlands Nationaldichter geboren – doch was hat der Weltliterat, das Werther-Genie, der Universalgelehrte im Jahr 2024 den Menschen mitzuteilen? Braucht es eine „Doktormutter Faust“, wie gerade von Fatma Aydemir beschworen? Wie heikel war tatsächlich Goethes Verhältnis zu den Juden – in diesem Jahr umfangreich untersucht vom Germanisten W. Daniel Wilson? Und weshalb sind so viele Facetten Goethes unbekannt, daher eine neue, beinahe 800-seitige Biographie notwendig? Ein Gespräch zum Jahresabschluss mit Thomas Steinfeld, Autor von „Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit“.

Beinahe 800 Seiten hat ihre jüngste Veröffentlichung, die noch einmal das komplette Leben Goethes betrachtet und dies auf eine hochinformierte Weise. Ihr Buch ist Kulturgeschichte, Geschichtsschreibung, philosophischer Exkurs, ein Tableau vivant des 18. und des 19. Jahrhunderts, es ist ein Lektürepfad und ein Sittendiskurs – allein der Anhang umfasst über 60 Seiten und rubriziert fast 650 Lektüren. Ist also „Goethe. Porträt eines Lebens. Bild einer Zeit“, Ihr Lebenswerk, der komplette Faust des Thomas Steinfeld? Ich würde jetzt natürlich gerne sagen: Ja, das ist mein Lebenswerk. Dann könnte ich ein bisschen von mir selber auf die Knie fallen. Aber so ist es nicht. Zum Buch: Ich denke, das ist die schlankeste Variante, die man überhaupt anlegen kannst. Es gäbe unendlich mehr zu sagen. Es gibt so viele kluge Sachen, die noch nicht berücksichtigt sind. Und dieses kleine Buch ist das, was für mich nach vielen Kondensationen dabei rauskam. Es ist auch in einem anderen Sinne nicht mein Lebenswerk. Das Buch hat eine Vorgeschichte. Die Vorgeschichte beginnt eigentlich damit, dass ich vor ungefähr 15 Jahren in einem Seminar an der Universität Luzern über Esoterik und Okkultismus gearbeitet habe, mit meinen Studenten zusammen. Daraus ist eine kleine Sonderveröffentlichung geworden, in der Zeitschrift „Neue Rundschau“ bei Fischer erschienen – 2011, wenn ich mich richtig entsinne. Da hätte ich eigentlich gerne weitergemacht. Und zwar hatte ich ursprünglich vor, eine Geschichte zu schreiben über die esoterischen Rezeptionen Goethes. Das geht von der Farbenlehre aus. Hauptsächlich. Dann geht es weiter: über Carus und Heckel, Rudolf Steiner natürlich, bis hin zu Heisenberg und Einstein. Dann habe ich angefangen, mit der Farbenlehre zu arbeiten, die zum ersten Mal wirklich gründlich gelesen. Da erst habe ich gemerkt: So geht das eigentlich nicht. Man muss den Zusammenhang erklären. Schrittweise kam ich einer Biografie näher. Dann kam irgendwann mein Verleger Gunnar Schmidt von Rowohlt Berlin, und gab mir einen Schubs: „Jetzt machen wir eine Biografie“, indem wir die Naturforschung Goethes angemessen berücksichtigen. Daraus ist dieses Buch entstanden.

Wir geben Goethe auch deshalb das letzte Wort dieses Jahres, weil er weiterhin präsent ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. 2024 erschienen ist die Studie „Goethe und die Juden“ von W. Daniel Wilson, aber auch Fatma Aydemirs szenische Überschreibung „Doktormutter Faust“ bei Suhrkamp. In Rom entsteht die achtteilige Goethe-Sitcom „Des Lebens goldner Baum“ – angekündigt als Sitcom im Stil von „Big Bang Theory“ oder „Modern Family“. Goethe also: ist er lebendig wie eh und je? Ja und Nein. Auf der einen Seite gibt es die Faszination. Die ist nach wie vor da. Ich war zum 250. Geburtstag in Weimar. Da waren viele Leute, und das waren bei weitem nicht nur Menschen, die sich einen schönen Tag machen wollten mit Gratiseingang im Museum, sondern das waren Menschen, die interessiert waren, wirklich, wirklich viele. Man merkt, auch an dem Buch, an den Veranstaltungen: das Interesse ist noch da. Aber, das kann man einfach nicht verhehlen, dass ein Teil der traditionellen Bildung oder vielleicht der größte Teil der traditionellen Bildung einfach wegbricht. Das geht verloren. Das geht im Schulunterricht verloren, das geht im allgemeinen Bewusstsein verloren. Safranskis „Kunstwerk des Lebens“, die große Biografie, 2014 erschienen, können wir vielleicht heute gar nicht mehr schreiben, weil das Buch eine Voraussetzung hat. Diese Voraussetzung war, dass Goethes Werk noch halbwegs vertraut ist, vor allem, dass die Bewunderung für Goethe lebendig geblieben war. Ich glaube, unter diesen Voraussetzungen kann man heute gar nicht mehr arbeiten, wenn man mit Goethe was machen möchte. Das hat zur Folge, dass man Goethe erklären muss. Das heißt, man muss die die Umstände erklären. Man muss das Werk erklären. Auch deswegen übrigens knapp 800 Seiten.

In keinem anderen Land, so schreiben Sie, war und ist das literarische Publikum so auf einen Poeten fixiert. In Großbritannien wollte man vielleicht wissen, wer William Shakespeare überhaupt gewesen war, aber nicht, was er gedacht gefühlt, gewollt hatte. In Italien wird immer noch Dante deklamiert. Aber bei Goethe ist es anders. Den wollen wir als Individuum, als lebendes Subjekt durchschauen. Weshalb liegt die Sache bei Goethe anders? Da kommen mehrere Dinge zusammen. Das Erste ist das Universale an Goethe. Goethe ist unglaublich weit gespannt. Er ist der letzte Universalist, den es in unserem Kulturraum gab. Schon bei seinen unmittelbaren Nachfolgern, wenn man sie als solche betrachten möchte, den Brüdern Humboldt – die waren eben Brüder. Der eine war Geisteswissenschaftler, der andere eher Naturkundler. Sie mussten sich den Universalismus sozusagen aufteilen. Man liest Goethe mit einer eigenartigen Erfahrung. Es ist eigentlich fast jeder Satz interessant. Jeder Satz ist durchgedacht. Jeder Satz hat was zu sagen. Nirgendwo sind Phrasen verbraten, man kommt überall rein. Das ist das eine. Das andere ist, dass Goethe die autobiografische Behandlung seiner selbst vorbereitet hat. Das fing schon an, bevor er „Dichtung und Wahrheit“ schrieb, also vor 1810. „Ich werde mir selber historisch“ war seine Formulierung. Dass er das machte – und das ist durchaus eine Pioniertat gewesen – war offenbar Aufforderung für unglaublich viele Menschen, sich mit diesem Leben auseinanderzusetzen, ihre eigene Variante von Goethes Leben zu schreiben: Biografien zu Goethe oder biographische Aufsätze zu Goethe. Die gibt es wie Sand am Meer. Dann gibt es natürlich den „Faust“, den jeder kennt, und das ist wirklich: Naja, ich will jetzt nicht allzu sehr ins Pathos gehen, aber doch, das ist ein Meisterwerk.

Aber Sie beginnen Ihr Buch nicht mit dem „Faust“, sondern mit einem weniger bekannten Text, mit der „Kampagne in Frankreich“. Weshalb ist dieses Ereignis Ausgang ihres Textes? Zuerst einmal: Ich wollte an den Anfang etwas setzten, was Anschauung war, eine sinnliche Vorstellung von dem, was Goethe gemacht hat. Goethe ist ein Mann der Anschauung. Zudem wollte ich zu Anfang etwas klarmachen: Sie haben vorhin das Wort vom „Dichterfürst“ benutzt, was diesem Dichterfürsten einigermaßen entgegenlief. Woran man nicht denkt, was aber unglaublich wichtig ist, das ist, dass über Jahrzehnte in Goethes Leben in Mitteleuropa, Westeuropa, in seiner Umgebung: Krieg herrschte. Goethe ist ein Mann des Krieges. Da ist zuerst der Siebenjährige Krieg, dann ist es die Revolution, dann sind es die Napoleonischen Kriege. Das hört überhaupt nicht auf. Goethe lebte im Krieg. Davon wollte ich ein Bild vermitteln. Deswegen habe ich mit dieser Passage angefangen.

Sie gehen in Ihrer Goethe-Biografie durchaus chronologisch durch sein Leben, das währte von 1749 bis 1832. Aber sie machen es auch essayistisch. Sie gruppieren nach Themen. „Ich habe den großen Vorteil“, soll Goethe zu seinem späteren Mitarbeiter Eckermann gesagt haben, „dass sich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten.“ Gilt er möglicherweise auch deshalb als unser Nationaldichter, weil er in einer der prägendsten Zeiten unserer Geschichte gelebt hat? Wenn man das Wort „national“ sehr weit fasst: dann ja. Goethe – Sie sagten es eben – ist 1749 geboren, 1832 gestorben. Genau in der Mitte seines Lebens – ’89 – fällt die Französische Revolution. Vorher ist Absolutismus, Merkantilismus, feudale Verhältnisse, die Welt ist hauptsächlich agrarisch verfasst. Nachher wird alles anders. Die bürgerliche Gesellschaft setzt sich allmählich durch. Es bilden sich Nationalstaaten, die Industrie entsteht, mit der Goethe dann auch noch was zu tun hat. Es ist wirklich eine Zäsur. Vorher gab es ein zyklisches Weltbild, danach eher die Idee von Fortschritt. Das alles geht durch Goethes Leben hindurch, all das kann man in seinem Werk wiederfinden. Also: national in einem ganz weiten Sinne, insofern der Stoff so unendlich weit und groß ist und Folgen hat bis auf den heutigen Tag

In dieser Zeit, in der sich die Nationalstaaten herausgebildet haben, war Goethe Weltbürger und gleichzeitig in der überwiegenden Zeit seines Lebens verwurzelt in einer kleinen Stadt in Mitteldeutschland. Wie ist er damals in Weimar angekommen? Das gehört eigentlich auch zu den Entstehungsbedingungen des Buches. Als ich dann angefangen habe zu arbeiten, also, nachdem ich die Farbenlehre zweimal gelesen hatte und dann guckte: Wie sind eigentlich die Bedingungen – kam ich natürlich auf die historische Forschung der vergangenen 30 Jahre. Da hat sich unglaublich viel getan. Sie sagten eben: kleine Stadt. Natürlich: kleine Stadt. Aber nicht bedeutungslos. Der Karl August, das war sein Herzog, der war einer der großen Fürsten des Alten Reiches. Der saß auf der Fürstenbank des Alten Reiches auf dem zweiten Platz in der weltlichen Abteilung. Der Rang eines Adeligen bestimmt sich nicht durch das Territorium, bestimmt sich nicht durch die ökonomischen Verhältnisse. Das ist Genealogie, das ist Dynastie, das ist Geschlecht und Alter. Da spielte er eine ganz, ganz entscheidende Rolle – vor allem im Hinblick auf den Fürstenbund, auf die Herausbildung eines dritten Deutschlands zwischen den Großmächten Österreich und Preußen. Die Entscheidung Goethes, nach Weimar zu gehen, das ist die Entscheidung eines Mannes, der gewusst hat, wo er den größtmöglichen Wirkungsraum hätte finden können. Das waren nicht Frankfurt. Wir stellen uns das heute so vor: Frankfurts Patriziertum, bürgerliche Stadt, Handel, das muss doch das Fortschritt gewesen sein. War es nicht, das war weitgehend eingebunden in eine alte Zunftordnung. Das war wirklich verschlossen, noch in den Stadtmauern. Weimar hingegen war die große Welt. Die große Welt war damals so beschaffen. Man darf nicht vergessen: Goethe war berühmt, als er nach Weimar ging. Das hat bestimmt eine Rolle gespielt für die Entscheidung Karl Augusts oder Anna Amalias, seiner Mutter, ihn nach Weimar zu holen. Er war zugleich Jurist mit Schwerpunkt Öffentliches Recht und Staatsrecht. Der Karl August der damals ganz ganz jung war, gerade 18 geworden, die Vormundschaft seiner Mutter wurde gerade aufgegeben. Der stand von einem großen Problem: weil er eben sehr jung war, musste er sich durchsetzen. Seine Mutter war eine eher schwache Regentin gewesen, und im Schatten dieser schwachen Regentin konnten sich starke Fraktionen innerhalb des örtlichen Adels aufbauen. Karl August hat diesen Mann gebraucht, der loyal war und der mit diesen inneren Verhältnissen nichts zu tun hatte. Deswegen kam Goethe nach Weimar.

Goethe war damals Jurist und doch auch Dichter. Er schrieb Gedichte während seiner ersten zehn Jahre in Weimar, und zwar einige der bekanntesten der deutschen Sprache, darunter auch dieses: Über allen Gefilden / ist Ruh’. / In allen Wipfeln / spürest du / kaum einen Hauch / die Vögel. Schweigen im Walde / warte nur, balde / ruhest du auch.“ Ihr Buch ist ein Lektüreschlüssel, und dieses Gedicht ist vermutlich das bekannteste deutscher Sprache. Dabei klingt es so schlicht: Wie erklären Sie sich denn die nach wie vor ungebrochene Faszination für diesen kurzen Text für „Wandrers Nachtlied“? Sie hätten sich zuhören müssen. Als Sie angefangen haben zu lesen, sind Sie sofort der Kraft dieses Gedichts erlegen. Die Einfachheit, die scheinbare Einfachheit ist der Schlüssel zur Wirkung dieses Gedichts. Da ist ein Gefühl, das jeder kennt. Jeder hat diesen Gedanken getroffen. Aber formuliert und so formuliert hat ihn keiner wie Goethe. Dazu braucht es jemanden, der diesen scheinbar schlichten Seelenton finden kann und dann Verse findet, in denen er das entwickelt, ohne es kaputtzumachen. Nehmen Sie doch einfach diesen letzten:Ruhest du auch.“ Hören Sie, dieses Changieren zwischen den Vokalen A und U, wie es gerade noch mal aufwärtsgeht und wo es dann nach unten kommt…

Es ist ein Gedicht, das man sofort memoriert. Und da kommen wir zu einem anderen Goethe, zu einem Goethe, der ja auch ein Dichter des Volkes war. Sie erinnern, dass das Volk eine Intellektuellen-Fantasie des ausgehenden 18. Jahrhunderts gewesen ist. Goethe ist damals durch das Elsass gewandert, er notierte Volkslieder „aus denen Kehlen der ältsten Müttergens aufgehascht.“ Woher kommt dieser Wunsch Goethes, bereits Dagewesenes aufzuschreiben in einer Zeit, in der ja viele umhergewandert sind, um das literarische Volks-Wissen aufzuschreiben? Die unmittelbare Inspiration kam natürlich von Herder. Goethe hatte den sechs Jahre älteren Herder in Straßburg kennengelernt. Das war damals schon literarisch intellektuelle Autorität. Herder hat ihn in die Schule genommen und in die Hügel geschickt. So kam Goethe dahin, und Goethe ist sehr gerne dahingegangen, aus mehreren Gründen. Einmal, weil dieses Sich-Hinwenden zur Natur, das kannte er von Rousseau. Damals war die Natur und dieses unmittelbare Empfinden, dieses Sich- Hineinleben in die Natur, zu einem Großintellektuellen-Projekt geworden. Gleichzeitig muss er eine unbändige Freude gehabt haben, diesen Volkston auszuprobieren. Goethe ist ja überhaupt ein Mann der Stimmen. Ein Chamäleon fast, das sich in viele Situationen hineinversetzen kann. Denken Sie ans „Heideröslein“, fast ein Volkslied und dann doch wieder keins. Er hat damit experimentiert, was er übrigens sein Leben lang gemacht hat. So kam er in diese scheinbar volkstümlichen Verhältnisse. Irgendwo heißt es bei ihm, dass das gar nicht so sehr stimmt mit diesen Volksliedern, weil die im Grunde alle schon Schlager gesungen haben, auch schon zu der Zeit. Aber er nimmt das auf und führt das in sein Register der Töne ein. Dieses Register, dieses Denken in Registern, ist unheimlich produktiv. Das haben Sie noch im „Faust“, bei Grete – und das behält er sein Leben lang.

Er konnte das aber auch, weil er ein Sammler war und dieses Sammeln, erstreckte sich über alle Bereiche. Sie berichten in ihrem Buch: „Als nach dem Tod von Goethes letztem Enkel im Jahr 1885 der Nachlass geöffnet und die Bestände des Goethe-Hauses von Neuem inventarisiert wurden, fand man mehr als fünfzigtausend Gegenstände: zweitausendfünfhundert Gemälde und Zeichnungen, gut neuntausend druckgraphische Blätter, sechsundsiebzig Gemmen, mehr als zweitausend Münzen, fast ebenso viele Medaillen, knapp vierhundert Kleinplastiken, dreihundert Gefäße und Schmuckteller aus Ton, mehr als zwölfhundert Silhouetten und dreiundneunzig größere Skulpturen und Reliefs, achtzehntausend Steine und fünftausend Objekte zur Zoologie und Botanik, zur Anatomie und Morphologie, zur Chemie und Physik.“ Welche Bedeutung hatte diese Wunderkammer für Goethe?“ Ich sage ja vorhin schon: Goethe war ein Universalist und in unserem Kulturraum der letzte große Universalist. Das heißt auch, dass er hier alles auf sich zusammenzog. Man muss das in seinem Kontext betrachten und die modernen Naturwissenschaften, die hatten damals gerade erst begonnen, und zwar in der Physik. Das heißt: wenn jemand damals anfing zu forschen, dann forschte er an materiellen Dingen. Er brauchte diese materiellen Dinge, und er sammelte sie gerne um sich herum. Daher die Bibliothek, daher auch diese gigantische Sammlung. Sammeln ist ein Phänomen der Zeit. Die Aufklärung hat nun auch gesammelt, mit großem Eifer. Denken Sie an die Enzyklopädie von Diderot. Denken Sie an die Wunderkammern, die Sie selber erwähnt haben, die zeitlich gesehen etwas früher liegen. Goethe zog das zusammen. Es gibt dieses Haus und diese unglaublich große Sammlung, das kann man nicht isoliert betrachten. Man muss Jena dazu bedenken, die Universität, für die er in vielen Jahren seines Lebens verantwortlich war. Da entwickelte sich vieles von dem, was er zu Hause hatte in wissenschaftlicher oder vorwissenschaftlicher Art und Weise weiter. Da spiegelte sich das eine im anderen. Hinzu kommt: Was die Französische Revolution für die Zeitgenossen bedeutete, davon machen wir uns überhaupt keine Vorstellung mehr. Das ist ein Jahrtausendereignis gewesen, das hat wirklich den Leuten den Boden unter den Füßen weggezogen und den Himmel einstürzen lassen, dass es so etwas überhaupt gab. Eine ähnliche Erfahrung war die Geologie. Goethes naturwissenschaftliches Interesse beginnt mit der Geologie, und zwar aus gutem Grund. Denn die Geologie ist die Forschungsrichtung dieser Zeit, in der sich das Bewusstsein von Geschichte überhaupt erst entwickelte. Am Anfang dachten die Leute, die hatten die Bibel gelesen, die hatten addiert und sie kamen auf 6000 Jahre. Das muss ungefähr das Zeitalter der Erde sein. Und je mehr man sich mit Geologie beschäftigte, desto größer wurde der Zeithorizont. Bis er plötzlich Millionen von Jahren umfasste. Auch da wurde den Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen. Und dass er diese Steine hatte, das waren Zeugen, Dokumente dieser unglaublichen Verwandlung zur Geschichte hin. Deswegen sind die so wichtig,

Dieses Wissen, das immer weiter anwuchs, wurde archiviert in Bibliotheken. Diese Einrichtungen erlebt Ende des achtzehnten Jahrhunderts einen radikalen Wandel. In welcher Weise hat Goethe diesen Wandel mitgestaltet? Zum einen war ein großer Leser. Das kann man wirklich nicht anders sagen. Wenn man durch seine Lebenszeugnisse geht, denkt man: „Mein Gott, wie hat er das alles zur Kenntnis nehmen können? Das schaffe ich nie und nimmer!“ Aber er konnte es. Dann muss man natürlich sagen: das Buch spielte damals eine ganz andere Rolle als heute. Es war der Wissenskörper schlechthin. Also: Ohne Bücher kein Wissen. Und dann hat Goethe durchaus gewusst, was eine moderne Bibliothek ist. Wer heute in Weimar ist, der kann die Anna-Amalia-Bibliothek besichtigen. Das ist unbedingt zu empfehlen, weil man da eine Vorstellung von dem bekommt, was eine Bibliothek in jener Zeit war. Goethe hat diese Bibliothek systematisch gepflegt, er hat Ankaufspolitik betrieben. Er hat sie der Öffentlichkeit geöffnet. Er hat einen Bibliotheksverband mit Jena gegründet. Damit wurden diese Ressourcen überhaupt erst zugänglich, und zwar nicht nur für eine ausgewählte Schicht, sondern eigentlich für jeden. Das ist auch eine Revolution.

Vieles wurde auf einmal größer. Die Zeit erstreckte sich, und in diese großen Strecken hinein hatte Goethe eine Vision, die er nie hat umsetzen können. Er wollte sogar einen Roman über das Weltall schreiben… Als ich das Buch schrieb, habe ich mit der Frankfurter Ausgabe gearbeitet. Das sind 45 Bänder oder 60.000 Seiten. Daneben gibt es aber die alte Weimarer Ausgabe: 143 Bände – und darüber hinaus ist gerade in Entstehung begriffen, eine Total-Ausgabe aller Werke Goethes, die nochmal das Doppelte oder Dreifache umfassen wird. Der Mann, der konnte nicht leben, ohne zu arbeiten.

Wenn man sich das alles vorstellt: wie umfassend Goethe jetzt ja inzwischen bekannt ist und wieviel Sie wiederum sich davon angesehen haben: welches Werk Goethes ist denn nach ihrer jahrzehntelangen Beschäftigung ihr liebstes? Das es schwer zu sagen. Goethe ist wirklich in jedem Satz interessant. Es gibt Dinge, die man an einer ganz unerwarteten Stelle findet, in irgendeiner Gelegenheitsarbeit und die einen dennoch faszinieren könnte. Aber wenn ich so richtig darüber nachdenke: Ich würde mich für „Die Wahlverwandtschaften“ entscheiden. Auf der einen Seite, weil es das einzige Buch ist, das eine geschlossene, durchgestaltete Handlung hat. Dann, weil so unglaublich viel drinsteckt, angefangen bei der Chemie, die das Modell für die Wahlverwandtschaften liefert, bis hin zur Immobilienwirtschaft, die in dem ganzen Buch eine tragende Rolle spielt. Und zwar Immobilienwirtschaft, durchaus im modernen Sinne. Dann kommt noch eins hinzu: Es passieren furchtbare Dinge in diesem Buch, aber Goethe hat die Kraft und das Vorstellungsvermögen, diese furchtbaren Dinge zu zivilisieren. Es ist ein ziviler Ton, der mich immer wieder fasziniert. Dann denke ich mir: Ja, so müsste das eigentlich sein, es müsste viel mehr geben von diesem zivilen Ton. Dann könnte ich sagen: „Kunst und Altertum“ ist mir auch sehr lieb. Das ist eine Zeitschrift, die Goethe als alter Mann herausgegeben hatte. Er war der Hauptautor. Einige seiner Freunde haben mitgewirkt, Sulpiz Boisserée, Heinrich Meyer, sein Sekretär Eckermann, der diese Gesprächsberichte schrieb. Das ist eigentlich eine journalistische Form, in der er da arbeitet, hauptsächlich kleine Stücke, aber mit einem unglaublichen Reichtum. Ich habe lange Zeit Feuilleton gemacht, und das ist eigentlich über viele Seiten hinweg ein Ideal-Feuilleton im Reichtum der Themen, in der Vielfalt, aber auch in der Schärfe der Gedanken.

Sie schauen sich umfassend an den „West-östlichen Divan“, der vielleicht vor dem Hintergrund heutiger Debatten nach wie vor interessant ist. Es gab zwei Fassungen. Die erste erschien im Jahr 1819 und stieß beim Publikum auf Zurückhaltung, wenn nicht auf Unverständnis. Die zweite Fassung – überarbeitet und um mehrere Dutzend Gedichte erweitert, wurde in der Ausgabe von Goethes Werken letzter Hand von 1827 veröffentlicht und kaum noch beachtet. Weshalb lohnt sich denn 2024 dennoch die neuerliche Lektüre? Man sagt immer: Der „West-östliche Diwan“ steht für einen Dialog der Kulturen und das sei gerade das, was wir heute brauchen. Das ist nicht falsch, das können wir gerne so stehen lassen. Aber der „West-östliche Divan“, der ist zugleich sehr viel mehr. Er passt auszeichnet ist ein System der unendlichen Spiegelungen. Goethe kann eigentlich nichts tun, ohne sich drei Tage später zu widersprechen. Und diese Spiegelungen gehen auch in dieses Werk ein. Der Westen spiegelt sich im Osten. Die Vergangenheit spiegelt sich in der Gegenwart, der Islam spiegelt sich im Christentum. Das geht die ganze Zeit hin und her in seinem oszillierenden Spiel. Auch die Menschen, die spiegeln sich einander. Es ist kein Zufall, dass einige Gedichte im „West-östlichen Diwan“ eben nicht von Goethe kommen, sondern von Marianne von Willemer verfasst sind, einer Freundin oder Geliebten, die er damals in Frankfurt hat. Gleichzeitig ist dieser „West-östliche Divan“ auch ein Produkt oder eine Fiktion oder Vision der eigenen Weltanschauung. Damals, als er das schrieb, hatte Goethe den Klassizismus aufgegeben oder aufgegeben müssen. Es herrschte die Romantik, die hatten andere Sachen im Kopf, und dann schreibt er diesen „West-östlichen Diwan“, und das ist eigentlich ein Versuch, seinen alten Klassizismus in ein neues Gewand zu kleiden, so nochmal aktuell zu machen.

Diese Fähigkeit zur Spiegelung hat möglicherweise auch damit zu tun, dass Goethe Weltbürger war, dass er in weltweiter Korrespondenz stand mit anderen Menschen. Wie war also Goethe – und wie war sein Werk – eingebettet in die fremdsprachige Dichtung jener Jahre? Weltbürger ist ein gefährliches Wort. Weltbürger setzt auf der anderen Seite den Bürger eines Nationalstaates voraus, und das war Goethe sehr unangenehm. Damit wollte er überhaupt nichts zu tun haben, mit Nationen und Nationalismus. Goethe ist ein Mann der Anschauung. Abstraktes ist ihm fremd und nicht nur fremd. Er will das nicht, weil er darin eine Autorität, einen Machtanspruch spürt, die ihm nicht gemäß ist. Und wenn man darüber hinaus über ihn als Weltbürger denkt, muss man auch an seine Ausbildung denken. Der Mann ist mit einer klassischen humanistischen Bildung aufgewachsen. Er konnte Griechisch, er konnte Hebräisch schreiben. Er hatte schon zu Schülerzeiten, wenn er denn je ein Schüler gewesen war, mit anderen Fremdsprachen zu tun gehabt, Englisch und Französisch sowieso. Das zieht sich sein Leben lang durch. Er nahm, wie man heute sagen würde: international wahr. Später hat er das weiterentwickelt zu diesem Projekt der Weltliteratur. Weltliteratur heißt für ihn aber nicht: die größten, besten, tollsten Werke der Literatur aller Länder an einem Punkt zusammengezogen, sondern heißt für ihn: eine Verkehrsform, eine Art des Umgangs miteinander. Das Übersetzen, das Herumschicken von Belegexemplaren, Studien, Exemplaren, ein funktionierendes Buchhandelswesen. Solche Dinge meint er eigentlich mit Weltliteratur. Das ist sehr pragmatisch, was mir sympathisch ist.

Zu Goethe Werk gehört auch die Staatskunst, sein geschicktes Agieren am Hofe. Sie beschreiben die politischen Herausforderungen jener Zeit, und in welcher Weise er sich positionierte, manchmal auch entzog, wie Goethe agierte, welche mannigfaltigen Aufgaben, an ihn herangetragen wurden. Welche berufliche Karriere verfolgte der Geheimrat, der studierte Jurist? Das ist nach außen hin sehr faszinierend. Diese Karriere war für damalige Zeit wirklich ganz, ganz außerordentlich. Das ist ein Bürgersohn gewesen, der nicht einmal zum richtigen Patriziat in Frankfurt gehörte. Da waren andere Familien viel wichtiger. Dann geht er nach Weimar. 1782 wurde er geadelt, Geheimer Rat. Die Welt scheint ihm zu Füßen zu legen. Es gibt den Glauben, er sei der wichtigste Minister an diesem Hof gewesen, was er nie war. Dessen ungeachtet ist diese Karriere einfach spektakulär. Was die tatsächlichen Möglichkeiten betrifft, muss man die ganze Sache allerdings etwas vorsichtiger sehen. Der Goethe hatte eine Zeitlang – also, es sind vor allem die ersten zehn Jahre in Weimar – einen erheblichen Einfluss und noch erheblichere Funktionen innerhalb des Funktionierens dieses Hofes. Er war für die Wege verantwortlich, für Straßen, für die Eindämmung der Saale. Was ihm am meisten beschäftigt und am Ende auch gequält hat, das war die ökonomische Verantwortung für unser Land. Das hat er alles gemacht. Aber es war im Grunde genommen nicht das, was er eigentlich wollte. Nach der Rückkehr aus Italien sieht die ganze Sache etwas anders aus, was auch damit zu tun hat, dass sich in der Folge von großen politischen Veränderungen die Politik professionalisierte. Es waren eben nicht mehr die Geheimräte, die das entscheidende Sagen hatten, sondern es waren funktionierende Regierungen mit einer echten Spartenverteilung, mit einzelnen Kompetenzen und Zuständigkeiten. Goethe hatte immer noch eine bedeutende Position, aber so, dass ein Ausschnitt im Ganzen für ihn vorbehalten war. Das hat er sehr erfolgreich bewirtschaftet. Das Theater zum Beispiel war eine Sache, die ihm großes Kopfzerbrechen verursachte. Aber ein richtiger politischer Kopf war er nie.

Als Carl August am 14. Juni 1828 starb, erhielt Goethe selbst einen Kondolenzbrief vom neuen Großherzogspaar, Sie schreiben: „Die Verhältnisse hatten sich verschoben: ‚Ein Fürstenpaar kondoliert dem ältesten Minister des eigenen Landes zum Tod des verstorbenen Monarchen und Vaters.’“ War die politische Bedeutung Goethes zum Ende seines Lebens größer als seine literarische? Nein, Goethe war am Ende seines Lebens eine europäische Berühmtheit. Da sind die Leute jeden Tag hingepilgert, das war eine unendliche Kette von Besuchern, Engländer, vor allem auch Franzosen, Schweden. Er war eine europäische Berühmtheit, und der Sohn, also das nachfolgende Paar, wusste sehr, sehr genau, was der Ruhm Goethes für die Bedeutung des Großherzogtums bedeutete und verhielt sich danach. Da stirbt der Herzog. Und wer bekommt den Kondolenzbrief? – Der Dichter.

Schauen wir vom Ernsten kurz auf die Spielernatur Goethes. Goethe hat Lotto gespielt. Wie kam es dazu? Das Lottospielen, das war zu der Zeit allgegenwärtig, ein Unternehmen, in dem sich viele, viele Staaten hingaben. Denken Sie an Hölderlin und Sinclair, an den Homburger Hof. Lotto gespielt, glaube ich, haben damals alle. Goethe verfolgte allerdings besondere Zwecke. Er hat teilgenommen an einer Hamburger Lotterie, deren Hauptgewinn, wie er meinte, ein Rittergut in Schlesien war. Er hat sich dabei geirrt. Er wäre gerne Rittergutsbesitzer gewesen. Das hat ihn auch so weit gelockt, dass er dann tatsächlich in Nachahmung von Wieland außerhalb von Weimar ein Rittergut kaufte und sich da auch für eine Weile niederließ. Sich in Zeiten der extremen politischen Unsicherheit einen Ort zu verschaffen, der Material, Stoff genug bot, um sich selber und die Familie damit zu versorgen…

Möglicherweise wollte er Voltaire beerben, der durch das Lottospiel reich geworden ist. Voltaire hat wahnsinnig viel damals gewonnen. Nach heutigen Maßstäben über 75 Millionen Euro. Ja, das Landgut können Sie heute noch besichtigen. Während von Goethes Landgut nichts mehr übrig ist. Ich finde das großartig. Im Grunde genommen hat man schon einen bürgerlichen Intellektuellen vor sich – und dieser bürgerliche Intellektuelle, der sucht die Erdung, und zwar nicht nur aus materiellen Gründen. Die gibt es auch. Sondern: Ritter sein, Adelshof gründen Uckermark – nein, nicht Uckermark – sondern Oberroßla.

Ernster hingegen ist, was 2024 erst so richtig ins Bewusstsein gekommen ist, nämlich Goethes Verhältnis zum Judentum, vor allem zu den Juden. Der US-amerikanische Germanist W. Daniel Wilson hat bei C.H. Beck seine Studie „Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft“ veröffentlicht. Darin lesen wir unter anderem, ich zitiere mit Auslassungen: „Goethes Judenfeindschaft drückt sich am deutlichsten in drei Episoden aus, die alle zu seinen Lebzeiten nicht an die Öffentlichkeit gelangten: seiner Ablehnung der jüdischen Emanzipationsbestrebungen in Frankfurt; seiner Unterstützung des judenfeindlichen Professors Fries, kombiniert mit der Wiederbelebung eines Aufenthaltsverbots für Juden in Jena […] und seinem ‚leidenschaftlichste[n] Zorn’ gegen die Zulassung christlich-jüdischer Mischehen in der neuen weimarischen ‚Juden-Ordnung’ – im letzteren Fall äußerte er zeitübliche Verschwörungstheorien über mutmaßliche jüdische Drahtzieher, darunter Rothschild.“ Wie bewerten Sie diese Arbeit Wilsons? Es ist ja nicht das erste Buch, das Wilson schreibt. Es ist auch nicht der erste Versuch Wilsons, die Olympier-Legende, den Dichterfürsten, das Ideal der deutschen Klassik zu demontieren. Es gibt dieses Buch über das Todesurteil gegen eine Kindsmörderin. Es gibt auch ein Buch von ihm über die Erotica Goethes: also dieses Bedürfnis, etwas gegen diesen Klassiker-Ruf zu setzen. Das hat seine Begründung. Das hat aber auch seine Grenzen. Die Grenzen entstehen vor allem dadurch, dass diese Klassiker-Legende in dieser Form wahrscheinlich gar nicht mehr existiert. Das neue Buch fällt erheblich moderater und verbindlicher aus, als die älteren Bücher. Über den Antisemitismus von Goethe gibt es überhaupt keinen Zweifel. Es gibt diese Äußerungen. In welchen Zusammenhang sie gehören, ist allerdings eher unklar. Es gibt vor allem diese eine Szene – das ist der dritte Punkt, den Wilson nennt – 1823, wo er dann los schimpft gegen das Heiraten zwischen Juden und Nichtjuden. Das geht dabei um ein neues Gesetz, was in Eisenach eingeführt wurde. Ich glaube, wenn man dabei gewesen wäre, hätte man durchaus etwas anderes darin sehen können: nämlich den Zorn eines alten Mannes, dem überhaupt nicht mehr passt, wie die Welt ihre Entwicklung nimmt, der dieses neue Gesetz wahrnimmt als nur eines von vielen Gesetzen, als nur eine von vielen Entwicklungen, in der sich neue politische Vorstellungen, in der sich eine neue Liberalität durchsetzt. Goethe war eben ein Konservativer. In dem Fall ging es gegen an die Mischehen. Auf der anderen Seite muss man sagen es gibt den inneren Goethe, der hin und wieder solche Äußerungen von sich gibt, über die man wirklich nur erschrecken kann. Es gibt aber auch den äußeren Goethe, der sich völlig anders verhält, zum Beispiel in „Dichtung und Wahrheit“. Es gibt diese hochinteressante Darstellung des Frankfurter Ghettos, an dem überhaupt nichts Antijüdisches, Antisemitisches zu erkennen ist. Eines seiner großen Idole, nämlich Spinoza, ist Jude, das weiß Goethe sehr genau. Goethe hat ein sehr inniges Verhältnis, fast ein Ziehsohn-Verhältnis zu Felix Mendelssohn. Das zieht sich alles durch. Ich glaube aber, man muss das relativierend betrachten.

W Daniel Wilson gibt zu bedenken: „Goethes judenfeindliche Verlautbarungen waren auch keineswegs so haarsträubend wie diejenigen von Achim von Arnim, Julius von Voß, Alexander von Sessa, Richard Wagner und anderen Judenfeinden aus dem Kulturbereich. Andererseits gehörte er ganz klar nicht zu denjenigen, die im Gegenteil juden- und emanzipationsfreundliche Werke veröffentlichten.“ Fehlt an Goethe, dass er nicht wenigstens ein bisschen wie Lessing war, der Autor des Nathan und des Einakters „Die Juden“? Über Goethe gibt es immer die Vorstellung: das ist ein Olympier, da sitzt jemand auf den Wolken und guckt in aller Gelassenheit auf die Welt darunter. Das war bestimmt nicht so. Goethe war ein Mann der Launen, schwer beherrschbar, bestimmt auch ein Mann der Wutanfälle. Das kommt zumindest in seinen inneren Kreisen durchaus zum Tragen. Die beste Quelle für ihn ist in dieser Hinsicht der Kanzler Müller, die tragende politische Gestalt in den späten Jahren Goethes. Das ist ein enger Vertrauter. Aber was der manchmal zu Protokoll gibt über Goethe – da denkt man: das kann nicht leicht gewesen sein.

Ein Mann der Widersprüche. Darüber reden wir jetzt seit beinahe einer Stunde, ein Mann der Widersprüchlichkeit. In seinen Kämpfen in seinen Neigungen, in seinen guten und auch wundersamen literarischen Erscheinungen. Versuchen wir es heiter zu wenden. Sie schauen selbstverständlich auch auf das erotische Werk, auf die Venezianischen Epigramme, auf die Römischen Elegien und erinnern, dass nach Abdruck von 20 Gedichten in Schillers Zeitschrift die Horen der große Johann Gottfried Herder gesagt haben soll, Goethe habe der Frechheit ein kaiserliches Siegel aufgedrückt. Die Horen müssten nun mit einem U geschrieben werden. Welcher Goethe zeigt sich in derartigen Gedichten? Da ist Herder qua Amt Oberhaupt der protestantischen Kirche in Sachsen-Weimar. Der ist dazu verpflichtet, solche Dinge zu sagen. Der Herzog, mit dem hat Goethe ein durchaus brüderliches Verhältnis, vor allem, wenn es um erotische Dinge ging. Der wird das anders gesehen haben. Erotisches ist bei Goethe von vornherein präsent. Es gibt „Hanswursts Hochzeit“ 1775. Es gibt die erste Walpurgisnacht im „Faust“. Das ist alles schon sehr offen und sehr, sehr deftig – In den „Venezianischen Epigrammen“, wie auch wenig später in den „Römischen Elegien“ ist das alles ein tragendes Element. Und das hat nicht nur mit der Gelassenheit zu tun, die Goethe in Italien erlebt hat oder vielleicht auch nicht erlebt hat. Jedenfalls muss sich eine Welt eröffnet haben. Das hat auch etwas mehr zu tun damit, dass er intensiv die antiken Dichter rezipierte: Catull, Lukrez. Vielleicht darf man nicht vergessen, wie Goethe in seinen frühen Jahren durch die Vogesen zog und Volkslieder aufschrieb, sich diesen Ton zu eigen gemacht hatte. So ähnlich ist das dann auch in Italien oder nach Italien. Wenn er anfängt, solche Dinge zu dichten, in denen er Vorbilder umsetzt, zu seiner Sprache macht. Ich sagte es vorhin schon: Goethe ist auch ein Chamäleon. Das ist ein Mann der vielen Stimmen. Und das Erotische ist eine seiner vielen Stimmen.

Wir reden die ganze Zeit von Männern. Es haben unzählige Frauen zu jener Zeit geschrieben, begabte Autorinnen – wie Sophie von La Roche, die „wohl als erste Frau in Deutschland … durch Schriftstellerei Geld verdienten, aber auch Schriftstellerinnen wie Johanna Schopenhauer, Dorothea Schlegel und Therese Huber – zum Teil protegiert von Goethe und Schiller, aber bei Weitem nicht so umfassend erinnert. Ist es nicht verwunderlich, dass wir selbst im Jahr 2024 so wenig von diesen Künstlerinnen wissen und Goethe weiterhin in aller Munde ist? Ich glaube, er war da durchaus aufmerksam. Dass wir all diese Frauen kennen, die Schlegel, Sophie Moreau, Marianne von Willemer, das gehört auch dazu. Das zeigt eigentlich, dass die Aufmerksamkeit immer dagewesen ist. Wenn man sich das Werk von Goethe anguckt, kann man ohnehin einen anderen Eindruck bekommen. Frauen spielen bei Goethe in den Werken eine immense Rolle: nicht nur die „Iphigenie“, auch Gretchen im „Faust“, da ist die Prinzessin im „Tasso“, da sind die beiden Frauen in den „Wahlverwandtschaften“. Überall, wo man hinguckt, gibt es – wenn man das unglückliche Wort von heute benutzen möchte – sehr starke Frauen – in dem Sinne, als sie in den Werken Goethes immer als zivilisatorische Instanz erscheinen. Es ist ihre Kraft, die Menschen zwingt, sich halbwegs zusammenzunehmen und aneinander respektvoll zu begegnen. Das ist nichts Geringeres. Das ist auch nichts Geringes für die Zeit. Ich denke, das spielt unter Umständen eine größere Rolle, als das Beachten oder Nichtbeachten von der einen oder anderen Schriftstellerin.

Es gibt dieses Goethe-Zitat: „Um Epoche in der Welt zu machen, dazu gehören bekanntlich zwei Dinge; erstens, daß man ein guter Kopf sei, und zweitens, daß man eine große Erbschaft tue. Napoleon erbte die Französische Revolution, Friedrich der Große den schlesischen Krieg, Luther die Finsternis der Pfaffen, und mir ist der Irrtum der Newtonischen Lehre zu Teil geworden.“ Goethe blieb also bis zuletzt überzeugt, seine Farbenlehre sei das Größte, was er vollbracht hat. Abschließend gefragt, Thomas Steinfeld: Wenn wir jetzt zum Jahreswechsel in die Zukunft schauen, was wird Ihrer Ansicht nach bleiben von Goethe, von seiner Literatur und von seinem beispielhaften Leben? Also zum einen zu Newton: Was bleibt, ist zum Beispiel eine Kunstinstallation im Romantik-Museum in Frankfurt. Das müssen Sie unbedingt mal sehen, denn dort ist Newtons Spektrum neben Goethes Spektrum aufgebaut. Wenn sie Glück haben und die Sonne scheint, dann können sie beide Spektren nebeneinander sehen. Es ist, wenn es um historische Wissenschaften geht, ziemlich sinnlos zu fragen, wer hat Recht? Wer hat nicht recht? Aber dass Goethe da etwas hatte, das können Sie im Treppenhaus des Romantik-Museums sehen. Und was bleibt bei Goethe? Ich denke, die Frage wird eigentlich immer falsch gestellt. Die Frage müsste eigentlich lauten: was bleibt von uns? Sind wir noch in der Lage, mit jemandem wie Goethe, mit einem wirklich universalen Kopf, mit all seinen Widersprüchen, all den Fragmenten, die da drinstecken, mit all den Ungereimtheiten – sind wir noch in der Lage, mit einem solchen Kopf umzugehen? Das ist weniger eine Frage des Urteils über ihn finde ich. Das ist eine Frage des Urteils über uns. Wenn es daran mangelt, dann kann meinetwegen auch Goethe untergehen. Aber das soll er nicht.

Thomas Steinfeld: „Goethe. Goethe: Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit“, Rowohlt Berlin, 748 Seiten, 38 Euro

Das Transkript basiert auf der Dlf Kultur-Sendung „Happy Birthday, Goethe“ vom 29. Dezember 2024, die hier nachgehört werden kann.

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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