Hugo von Hofmannsthal hat in »Der Turm« eine eigentlich unzerstörbare Vorlage verschandelt. Germanisten lieben dieses unslesbare Werk. Warum nur? (Das Beitragsbild ist von Wikipedia)
Das Publikum liebt Nach- und Neuerzählungen bekannter Geschichten. Diese goldene Hollywoodregel kannte schon das österreichische Literaturwunderkind Hugo von Hofmannsthal. Der Autor versuchte sich Anfang des 20. Jahrhunderts an einem großen, populären Stoff, an Calderón de la Barcas spanischen Barockthriller »Das Leben ein Traum«. Doch Hofmannsthal hat die Vorlage verschandelt. Dabei klingt Calderóns Geschichte unverwüstlich: Der polnische Prinz Sigismund wurde vom eigenen Vater Basilius schon als Baby eingekerkert, ohne den Grund zu wissen, ohne zu ahnen, dass er ein Königssohn ist. Die Sterne hatten prophezeit, dass in diesem Jungen ein Tyrann schlummert, der später seinen eigenen Vater erniedrigen wird. Nach vielen Jahren lässt Basilius seinen Sohn dennoch frei, in der Hoffnung, dass die Sterne irrten. Damit es nicht von Beginn an Ärger gibt, muss der weiterhin Ahnungslose einen Schlaftrunk leeren. Sigismund wacht verwirrt im Palast auf und erfährt, seine Kerkerhaft sei nur ein Traum gewesen. Der Prinz, nun hochmütig gestimmt, bringt aus Langeweile sogleich eine Wache um. Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Der Tyrann wird erneut betäubt, zurück in der Kerker gebracht und erfährt dort, er habe wieder geträumt. Sein Aufpasser Clotaldo schärft Sigismund ein, stets gut zu handeln, denn selbst im Traum sei ein Mord unrecht. Als Sigismund wenig später vom aufgebrachten Volk befreit wird und seinen Vater nun endgültig töten soll, erinnert sich der Geschlagene an die Worte Clotaldos und begnadigt seinen Vater, unwissend, ob er wacht oder träumt, ob er als Vatermörder Konsequenzen fürchten müsste oder nicht. Was für ein Plot, was für ein Tempo, was für eine Kraft!
Dann kommt Hofmannsthal, streckt, dehnt, verzerrt diese schöne Geschichte. In verschiedenen Fassungen und während jahrzehntelanger Arbeit verschandelt der Wiener dieses Meister werk. Spannende Stellen wie die doppelte Schlaftrunkcharade des Vaters werden beiläufig erzählt, andere, zum Beispiel ein anfänglicher Arztbesuch, mühsam ausgebreitet. Bei Calderon taucht ein Narr auf, der jeden Kinogänger an Groucho Marx erinnern muss und noch heute für Lacher sorgt. Bei Hofmannsthal fehlt er. Hofmannsthal quält seine Leser und Theaterbesucher dagegen mit lateinischen Zitaten, bedeutungsschwangeren Bibelstellen und verworrenen Dialogen. Kein Wunder, dass anfangs niemand dieses Ungetüm aufführen wollte. Aber eben wegen dieser Anspielungen wird Hofmannsthal heute von der Literaturwissenschaft geliebt. Man kann fein an ihm interpretieren und Oberstufenschüler lernen hier am einfachsten, welche Vorzüge stringente Hollywoodfilme haben.
Hugo von Hofmannsthal: „Der Turm“, hrsg. v. Werner Bellmann, Reclam, 248 Seiten, 6,10 Euro
Vita: Am 1. Februar 1874 kommt Hugo von Hofmannsthal als einziges Kind des Bankdirektors Dr. jur. Hugo von Hofmannsthal und seiner Frau Anna in Wien zur Welt. Mit 17 veröffentlicht er sein erstes Drama, wird als Wunderkind gefeiert. Er studiert Jura, dann Romanistik, promoviert, entschließt sich 1901, als freier Schrifsteller zu leben. Er schreibt Libretti für Opern von Richard Strauss. Hugo von Hofmannsthal stirbt am 15. Juli 1929 nach einem Schlaganfall. Er gilt heute als wichtigster Repräsentant des deutschsprachigen Fin de Siècle und der Wiener Moderne.