Zwei Romane beschauen in dieser Woche die Vergangenheit. In Katja Oskamps „Die vorletzte Frau“ wird eine Schriftstellerliebe rekapituliert, während Roman Ehrlichs „Videotime“ eine westdeutsche Kindheit erinnert, in der VHS das einzig funktionierende System darstellt.

Der ungebrochenen Mütter- Renaissance (von Marlen Hobracks bald erscheinendem „Erbgut“ bis zu Christine Vescolis „Mutternichts“) stehen Väter-Erkundungen gegenüber wie Roman Ehrlichs „Videotime“, die essayistische Inventarisierung einer Generation-Y-Jugend. Der Ich-Erzähler besucht seine niederbayrische Heimat und reflektiert das eigene Aufwachsen unterm zwanghaften Vater, einem kleinen Justizvollzugsbeamten, der persönliche Niederlagen kalt kompensiert. Der Bruder muss in brutalen Tennistrainings schuften bis zum Erbrechen. Der unsportliche Erzähler wird zum „Kinderboxen“ genötigt. In der Freizeit gibt es Filme, die den heillos überforderten Jungs vorgespielt werden aus Vaters „Piratenvideothek“ – illegal kopierten VHS-Kassetten.

Es sind heroische Actionstreifen wie „Universal Soldier“ oder „Total Recall“, die ein soldatisches Männerbild perpetuieren, vom Erzähler nachträglich mit dem Zeitgeist parallelisiert. Der böse Blick getunter Kleinwagen steht in Verbindung zum ebenfalls bösen Blick der Boomer-Väter auf ihre Gattinnen. Der Pseudo-Patriarch stellt seine unsichere Frau bloß, insistiert beispielsweise, ihre Ausscheidungen röchen am schlimmsten. Da ist keine Liebe. Dieses Paar verbindet die Wehrmachtserfahrung ihrer Eltern. Der Vater wurde durch frühere Disziplinierungen hart, die Mutter weich vom Zucker ihrer Süßigkeiten, „ohne aber jemals davon überzeugt gewesen zu sein, sich das süße Leben auch verdient zu haben.“ Spoiler-Alarm: Man sollte die Filme gesehen haben. Sie werden nacherzählt, als „Tell don’t show“ in diesem komplett dialogfreien Cineasten-Roman, der vom eigenen Ich entfremdete Figuren vorstellt, die ihr Leben nur über eskapistisch- unrealisitische (Film-)Projektionen erzählen können und nicht einmal beim Blick in den Spiegel eine Vorstellung haben, wer sie tatsächlich sind. Roman Ehrlich: „Videotime“, S. Fischer, 372 Seiten, 26 Euro

Die vorletzte Frau

Sie schreibe dem eigenen Leben hinterher, bekennt „Die vorletzte Frau“. Nachdem Katja Oskamp ihre Erfahrungen als Gattin eines Stardirigenten („Die Staubfängerin“, 2007) und Fußpflegerin („Marzahn, mon amour“) literarisiert hat, ist jetzt die 19 Jahre währende Liaison mit dem Schweizer Schriftsteller Thomas „Tosch“ Hürlimann autofiktionale Folie einer Geschichte über den willkommenen Ausbruch (wie schon „Hellersdorfer Perle“ 2010 von einem Ausbruch berichtet hat). Künstlerische-erotische Ko-Existenzen („Tosch liebte meine Texte und meinen Hintern. Ich liebte Toschs Pranken und sein Lektorat.“) sind en vogue seit der Veröffentlichung des Briefwechsels Bachmann/Frisch, der die Bestsellerlisten erobert hat. Auch jetzt muss man weder vertraut sein mit Oskamps oder Hürlimanns Texten, ebensowenig tiefere biographische Kenntnisse besitzen, um flirrend eingenommen zu werden von diesem lakonisch abgeschrittenen Plot über „zwei Drittel eines durchschnittlichen Frauenlebens“:

Konflikte und Kompromisse einer Patchworkfamilie, geschrieben in heiter gestimmter Privatsprache: Wörter wie äppeln, treteln, haddeldaddeln kommen vor, die Adoleszenz von Tochter Paula, mal gemeinsame, dann wieder getrennte Wohnverhältnisse, die ad hoc einbrechende Krebserkrankung Toschs (der inzwischen genesene Hürlimann hat öffentlich über seine Rekonvaleszenz berichtet). „Er fing an, vom ‚Ruinen-Gefühl’ zu sprechen, und ich sagte: ‚Du bist keine Ruine, du bist ein Kulturdenkmal und kannst Eintritt nehmen.’“ Zeit und das je individuelle Verhältnis zum verändernden Möglichkeitsraum, Verführungen und Verletzungen strukturieren diese unprätentiöse Beobachtung erster und zweiter Ordnung: „Als Paula acht war, sagtest du zu uns: ‚Ihr seid jung. Ihr habt das Leben vor euch. Ich aber bin alt.’ Als Paula achtzehn war, sagtest du zu ihr: ‚Du bist jung. Du hast das Leben vor dir. Wir aber sind alt.’ Dann sahst du mich an.“ Ein Leben kann im Scheitern, kann trotz aller Herausforderungen gelingen, solange die Erzählung über dieses Leben noch im vermeintlichen Hinterherschreiben ihre Konsistenz – und ihren Humor bewahrt. Katja Oskamp: „Die vorletzte Frau“, Ullstein, 212 Seiten, 22 Euro

 

 

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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