Ai Weiwei, ein anti-kapitalistischer Werber-Roman, die Entzauberung der Beltracchi-Bande und endlich eine unzensierte Fassung der Absoluten Beginners gehörten zu den Büchern des Jahres 2013.
Als Jugendlicher hat Thomas Pletzinger hochklassig beim TSV Hagen gespielt. Er wollte Basketballprofi werden. Das hat nicht funktioniert. Stattdessen ist er Schriftsteller geworden. Nachdem er mit seinem Debütroman „Bestattung eines Hundes“ große Erfolge feiern konnte, erfüllte sich Pletzinger seinen Traum und lebte 2011 ein Jahr lang mit den Basketballprofis von Alba Berlin. Er hat allerdings eine heikle Saison erwischt. Die Berliner kassieren die höchste Niederlage ihrer Vereinsgeschichte. Der Trainer wird entlassen. Die Stimmung ist nervös. Pletzinger trägt währenddessen die gleichen Klamotten wie die Mannschaft. Er ist bei jedem Spiel anwesend. Er ist Teil des Teams. Irgendwann sagt er „wir“, wenn er die Mannschaft meint. Aus Leidenschaft ist hier eines der besten Sportbücher der vergangenen Jahre entstanden. (Thomas Pletzinger: „Gentlemen, wir leben am Abgrund“, KiWi, 256 Seiten, 14,99 Euro)
„Der Auftraggeber, ein deutscher Sportartikelhersteller, will eine neue Schuhserie auf den Markt bringen. Die Konzeptstudie ist fertig, seit einem halben Jahr arbeiten Jans Team und die Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Unternehmens daran. Die dazugehörige Kampagne steht, fehlt nur noch das ,Go‘ vom Vorstand des Auftraggebers.“ – Das ist die Ausgangssituation von „RLF. Das richtige Leben im falschen“, dem Roman des Berliner Architekten Friedrich von Borries, der nach seinem Debüt „1WTC“ aus dem Jahr 2011 eine Anti-Kapitalismusgeschichte veröffentlicht. Nach der Lektüre möchte man von seinen Sneakern wahlweise den Swoosh, die drei Streifen oder das Krokodil abreissen. Behauptet wird in „RLF“, dass Mikael Mikael, der Held von Friedrich von Borries erstem Roman das Handy des Werbers Jan bekommen hat. Auf dem soll eine Spyware installiert sein, die das Leben von Jan protokolliert, einem vorderhand spießigen Hamburger Werbetyp mit übersteigertem Ego – wie in Frédéric Beigbeders „39,90“ und der daran schließenden Werberroman-Schwemme. Borries hingegen beschränkt sich nicht auf die Schilderung eines dekadenten Lebenstils. Jan präsentiert in London das Konzept für einen neuen Turnschuh, der so designt ist, dass man damit besonders gut Parcours betreiben kann den Trendsport der Gegenwart, weil er ohne Fernsehverträge, Stadien und Dopingskandalen funktioniert. Eigentlich ein Widerspruch in sich: Ein antikapitalistischer Sport wird vom Kapitalismus vereinnahmt (wie zuvor die Punk- oder die Indiebewegung). Zunächst will Jan mit „revolutionären“ Mitteln – Stichwort Guerilla Marketing – seinen bescheuerten Schuh verkaufen. Aber dann gerät er in London in die Krawalle von 2011, als Jugendliche die Läden ausräumten, Autos anzündeten usw. Plötzlich explodiert Jans extrem biederes Leben. Aus dem zynischen Werber wird ein Aktivist, der erkennen muss, ein richtiges Leben im falschen, das gibt es tatsächlich nicht. Friedrich von Borries: „RLF“, Suhrkamp nova, 252 Seiten, 16 Euro
Das Verhältnis zwischen China und dem Westen ist gespalten. Nach regierungskritischen Äußerungen wurde der Blogger und Künstler Ai Weiwei am 3. April 2011 verhaftet. Die von drei deutschen Museen veranstaltete Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“ am Platz des Himmlischen Friedens in Peking (Ort des Tian-anmen-Massakers 1989) geriet vor wenigen Wochen zur Farce. Der in China lebende Journalist und Satiriker Christan Y. Schmidt schreibt in seinen Kolumnen allerdings nicht nur über Menschenrechtsverletzungen. Denn bei ihm geht es auch um einen Partnertausch-Professor, um Fahrräder in Peking und die Wasserscheu vieler Chinesen. Weil die meisten nicht schwimmen können, sind Freibäder nur 1,50 Meter tief. Wie die vielen Schwimm-Goldmedaillen zustande gekommen sind, wird ein Rätsel bleiben. Ebenso etliche Fragen, die auch Christian Y. Schmidt nicht beantworten kann: Wann kommt Ai Weiwei frei? Wieviele Hinrichtungen befiehlt die chinesische Regierung tatsächlich? Dieses Buch hilft beim Nachdenken. Christian Y. Schmidt: „Im Jahr des Tigerochsen“, Verbrecher Verlag, 192 Seiten, 13 Euro
Der Maler Wolfgang Beltracchi hat Bilder aus der frühen Moderne erfunden. Er hat bekanntlich keine Bilder kopiert, sondern eigene gemalt und behauptet, hier lägen verschollen geglaubte Meisterwerke vor. Das ging 35 Jahre und viele Millionen Euro lang gut, bis er im Herbst 2011 vom Kölner Landgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. In „Falsche Bilder, Echtes Geld“ dekonstruieren die Journalisten Stefan Koldehoff und Tobias Timm das Bild vom angeblich coolen, lässigen Medienstar Beltracchi. Denn so gut wie behauptet, konnte der Mann auch wieder nicht malen. Das belegt diese Veröffentlichung und zeigt sehr viele extrem schlechte Bilder. Außerdem hat Beltracchi nicht nur Superreiche abgezockt, sondern bereits in den Achtzigern ganz gewöhnliche Leute. Nach diesem Buch hat man kein Mitleid mit den blamierten Experten, die Beltracchis Fälschungen reihenweise Echtheit bescheinigt haben. Zum Teil waren in den Signaturen Rechtschreibfehler. Dann wurde von Bildern behauptet, sie hätten in den 20ern in dieser oder jener Galerie gehangen – dabei waren diese Galerien zu der Zeit längst geschlossen. Bizarr: In Deutschland werden Fälschungen nicht markiert oder vernichtet, wie beispielsweise in Frankreich. Hierzulande wurden Fälschungen an Besitzer zurückgegeben. Möglich, dass in 20, 30 Jahren genau diese Fälschungen wieder auf dem Kunstmarkt auftauchen und erneut Geld mit falschen Expressionisten gemacht wird. Stefan Koldehoff, Tobias Timm: „Falsche Bilder – Echtes Geld“, Galiani, 274 Seiten, 19,99 Euro
„Ich erinnere mich an diesen heißen, wundervollen Sommer, in dem die Teenagerbewegung in voller Blüte stand und jeder in England staunte und starrte auf das, was passierte. Die Nächte in Soho waren cool. Trotz der Hitze. Mit der Musik und dem Licht in den Straßen. Wir konnten gar nicht glauben, dass dies alles wirklich war.“ So fängt der 1986 mit David Bowie gedrehte Film „Absolute Beginners“ an – basierend auf dem gleichnamigen Roman des Briten Colin MacInness, in diesem Jahr auch auf Deutsch erhältlich in einer anständigen Übersetzung beim Metrolit-Verlag. Die erste Übersetzung war stark zensiert: Es durften keine Huren, keine Drogen und keine Transvestiten vorkommen. Die zweite Übersetzung wiederum war an diesen schlimmen, überkanditelten Musicalfilm mit David Bowie angelehnt und ebenfalls gekürzt. Das heißt: erst jetzt, 54 Jahre nach Erscheinen, sind wir bereit für die nackte Wahrheit: Es geht um einen jungen Fotografen, der 1958 mit seinem Motorroller durch London fährt und das Hipsterleben dokumentiert. In einer Zeit, als der Jazz noch groß war und illegale Clubs Teil der Jugendkultur wurden; was viel damit zu tun hat, dass die Teenager plötzlich Geld ausgeben konnten. Dann beginnen in Soho sogenannte Rassenunruhen, weil das Viertel für solvente Mieter aufgewertet, also gentrifiziert werden soll. Unterhaltsam. Dokumentarisch. Wild. Colin MacIness: „Absolute Beginners“, übersetzt von Maria und Christian Seidl, Metrolit, 352 Seiten, 19,99 Euro
Jeder Debütroman birgt Hoffnungen. Bei der 1985 geborenen Jessica Soffer schienen die Hoffnungen besonders groß, war sie doch während ihres Studiums Rechercheassistentin der amerikanischen Bestsellerautorin Nicole Krauss – vielleicht hatte sie dort etwas gelernt? Ihre Kurzgeschichten erschienen unter anderem in der New York Times. Colum McCann nennt ihre Prosa „beherrscht und erfrischend.“ Warum eigentlich? Die fürsorgliche Tochter Lorca möchte die Melancholie ihrer deprimierten, alleinerziehenden Mutter lindern. Deshalb zieht die junge Frau durch New York, auf der Suche nach einem geheimnisvollen Fischrezept. Sie will Masgouf kochen, das irakische Nationalgericht, mit dem die traurige Mama ein besseres Leben verbindet. Lorca trifft nach kürzeren Recherchen auf eine alte Köchin aus Bagdad, die gerade Witwe geworden ist. Die beiden freunden sich an und sehr schnell wird deutlich, dass zwischen der Exil-Irakerin, der unsicheren, zur Selbstverletzung neigenden Lorca und der Sehnsuchtsstadt Bagdad eine Beziehung besteht. Nun ist dieser Roman vor allem deshalb ein Ärgernis, weil er das amerikanische Krieg-gegen-den-Terror-Trauma für ein überzuckertes Melodram missbraucht. Es gibt Stilunfälle, die vom „dröhnenden Blut“ und „überlaufenden Herzen“ berichten. Der Plot ist durchsichtiger als eine Panoramafensterscheibe, was soll man sagen? Noch-Hanser-Verleger Michael Krüger hat vor Kurzem in einem Interview bemerkt, dass viele Leser allzu gern schlechte Literatur kauften. Dieser Einschätzung folgend müsste „Morgen vielleicht“ von Jessica Soffer ganz vorn in den Bestsellerlisten stehen. (Jessica Soffer: „Morgen vielleicht“, Kein & Aber, 384 Seiten, 19,90 Euro)