In Syrien ist Krieg. Viele Menschen flüchten Richtung Deutschland. Sie flüchten unter anderem vor der syrischen Armee und vor dem Islamischen Staat. Sie flüchten aus Angst vor Bomben, Terror und Tod. Syrer flüchten über das Mittelmeer oder über die Balkanroute Richtung Norden – und nur wer großes Glück hat schafft es nach Deutschland. Diese Menschen kommen als Fremde in ein fremdes Land – in unser Land, das sie verändern werden – mit ihrer Kultur, ihrer Literatur, ihren Geschichten. Doch: Was sind das für Geschichten?
„OK, Moment, das kann nicht sein, dass der arabische Raum so groß und nah ist, dass allein Kairo, 25 Millionen Einwohner hat und dass es da nicht Leute gibt wie mich, Leute, die interessante Sachen machen und schreiben“, dachte sich die aus München stammende Kunststudentin Sandra Hetzl vor einigen Jahren, „und wieso sind die dann nicht bei mir auf dem Schirm? Ich würde die so gerne kennenlernen und sehen, was die schreiben und machen und denken.“
Also ist Sandra Hetzl losgezogen und hat diese Leute ausfindig gemacht und angefangen, zu übersetzen. Allein durch sie sind syrische Autorinnen und Autoren wie Aboud Saeed („Der klügste Mensch im Facebook“), Rasha Abbas („Die Erfindung der deutschen Grammatik“) und Assaf Alassaf („Abu Jürgen – Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“) hierzulande bekanntgeworden.
Wer aus Syrien Richtung Deutschland flieht, der gelangt von einer Kulturnation in eine andere. Es ist genau so, wie es Sandra Hetzl gesagt hat: Es gibt in Syrien Leute, die interessante Sachen machen, die Theater spielen, die Musik komponieren, die Bücher schreiben. Die syrische Literatur gehört zum Besten – aber kennen wir diese Literatur überhaupt, abgesehen von dem, was der alte Goethe in seinem „West-östlichen Diwan“ geschrieben hat?
Der bekannteste syrisch-stämmige Schriftsteller ist hierzulande Rafik Schami (eigentlich: Suheil Fadél), der Bücher wie „Eine Handvoll Sterne“ veröffentlicht hat. Der mehrfache Adelbert-von-Chamisso-Preisträger lebt allerdings seit 1970 nicht mehr in Syrien, 1971 wanderte er in die Bundesrepublik aus. Ebenfalls viel gelesen ist der Goethepreisträger Adonis (eigentlich Ali Ahmad Said Esber). Beide Schriftstellern werden seit der Arabischen Revolution von allen großen deutschen Magazinen interviewt, um Stellungnahmen gebeten, ihre Bücher rauf und runter rezensiert. – Aber es gibt natürlich noch viel, viel mehr Autoren, die interessant sich, deren Bücher sich lohnen, Autoren, die inzwischen sogar hier in Deutschland leben.
Seit September 2014 wohnt die inzwischen 31-jährige Short-Story-Autorin Rasha Abbas in Deutschland, aktuell in Berlin-Schöneberg. Abbas ist nicht mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer nach Europa gekommen. Sie hat auch nicht den beschwerlichen Weg über die berüchtigte Balkanroute nehmen müssen. Sie lebte bereits mit ihrem Freund, einem libanesischen Schriftsteller, in Beirut, als die Stipendien-Einladung aus Stuttgart kam. Fünf Tage hatte sie damals Zeit, um ihren alten Job zu kündigen und ihre Sachen zu packen, um sehr, sehr schnell ins unbekannte Deutschland zu fliegen.
„Ich habe Syrien 2012 verlassen. Damals war meine Sicherheit gefährdet“, erzählt sie im Interview. „Viele meiner Freunde verschwanden in jenen Tagen, einer nach dem anderen. Ich bekam Angst und zog deshalb 2012 nach Beirut. Ich hatte einen kurzen Aufenthalt geplant, bis sich die Lage in Damaskus beruhigt hätte. Doch je länger ich im Libanon war, umso unsicherer wurde meine Rückkehr.“
Erst in Stuttgart war Rasha Abbas sicher. Aber mit dem Gefühl der Sicherheit vermischte sich nun ein neues, ein schuldgeplagtes Gefühl – man kennt dieses Gefühl aus der Erzählung von Exilanten aller Jahrhunderte… Im September 2014 saß Rasha Abbas im grünen Gras, schaute in den deutschen Wald hinein und dachte daran, was zur gleichen Zeit im weit entfernten Syrien geschah. Sie dachte an ihre Freunde und an all jene, die nicht das gleiche Glück wie sie hatten.
Gerade ist ihr Geschichtenband „Die Erfindung der deutschen Grammatik“ beim Berliner mikrotext-Verlag erschienen. Dort erzählt Abbas auf humorvolle, knappe Weise von ihrem neuen Leben in der Fremde, von den kleinen und großen Problemen und von den Dingen, über die Einheimische eher selten nachdenken: „Ich habe beispielsweise überlegt, warum es keinen deutschen Superhelden gibt wie Superman oder Batman, was vielleicht an der Anpassung im Land liegt. Deshalb erfand ich einen Superhelden, der die Regeln bricht, einfach indem er bei Rot über die Ampel geht oder ohne Ticket Straßenbahn fährt.“ – Allerdings will dieser deutsche Superheld nicht nur bei Rot über die Ampel gehen, sondern nebenbei auch die Welt retten: doch er scheitert ständig an den Formularen, die er ausfüllen muss.
Man mag sich kaum ausmalen, welches Schicksal dem Helden im wesentlich bürokratischeren Österreich widerfahren wäre. Rasha Abbas gibt zu, dass ihr Blick auf die deutsche Organisationsweisen überzogen ist; aber das Überzogene, das Überdeutliche hat Tradition in der arabischen Literatur, zu deren vornehmsten Ziel die Verständlichkeit gehört; von den Anfängen im 8. Jahrhundert bis zum Gegenwart.
Vieles davon erfährt man in Adonis’ Essaysammlung „Wortgesang“. Der syrische Großschriftsteller bietet da eine knackige Einführung in die Literaturgeschichte des Landes – und man begegnet Autoren, die in Deutschland gewiss vollkommen unbekannt sind, wie „al-Farabi“, der sich im 9. Jahrhundert mit der Verbindung von Dichtung und Musik beschäftigt hat: „Al-Farabi unterteilt diese Melodien in drei Kategorien, analog zu den Unterteilungen des dichterischen Ausdrucks: Die erste nennt er ‚die stark Machenden’, die die Seele stärken und ihre Emotionen noch intensiver hervortreten lasse; die zweite ‚die weich Machende’, die der Seele Sanftmut und Weichheit verleiht; die dritte ‚die Ausgeglichene’, die die Seele in ein Gleichgewicht zwischen Stärke und Weichheit bringe und ihr im Zuge dessen Ruhe und Stabilität ermögliche.“
All diese Melodien – die stark machende, die weich Machende und die ausgleichende sind vereint in dem kleinen Buch „Abu Jürgen“, das einer der interessantesten syrischen Autoren geschrieben hat, die aktuell hier in Deutschland leben: der 40-jährige Assaf Alassaf: „Meine Heimatstadt ist Der er-Zor im Nord-Osten von Syrien. 15 Jahre habe ich in Damaskus gelebt, dann bin ich 2013 nach Mauretanien gegangen, um dort als Zahnarzt zu arbeiten. Nach einer Weile zog ich in den Libanon, um meine Familie zu sehen. Dort war ich dann zwei Jahre lang und arbeitete dort ebenfalls als Zahnarzt. Irgendwann fing ich an, auf Facebook zu schreiben und aus diesen Facebook-Nachrichten habe ich ein Buch gemacht.“
Alassaf hat an verschiedenen friedlichen Protesten teilgenommen. Er wurde dafür vom Assad-Regime inhaftiert und politisch verfolgt. In „Abu Jürgen – Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“ schreibt er über die verwickelten Umstände, die ihn am Ende nach Deutschland geführt haben. „Er ist mein Freund. Er ist mein deutscher Freund“, erklärt Alassaf, „Abu Jürgen ist mein erster deutscher Freund. Aber er sowohl der deutsche Botschafter in Beirut als auch ein erfundener Charakter. Ich erfand Abu Jürgen und setzte ihn in meine Geschichte, um die geschilderte Situation humorvoll zu gestalten, die Flüchtlingssituation, die Situation über meinen Alltag, über meine Arbeit.“
Im sogenannten „Beiblatt zum Asylantrag“, den die Übersetzerin Sandra Hetzl geschrieben hat, steht: „Nach seinem Studium bewegte Alassaf sich in den säkular-demokratischen Oppositionskreisen um die berühmten syrischen Dissidenten Suheir Atassi (bis 2013 Vorsitzende der Oppositionskoalition) und den ehemaligen politischen Häftling und Autor Yassin al-Haj Saleh, mit denen er auch privat befreundet ist. Während der “Damaszener Frühling” genannten Demokratiebewegung zwischen 2000 und 2004, nahm Alassaf mehrmals an Diskussionsrunden im verbotenen, von Rechtsanwältin Suheir Atassi gegründeten Dschamal-al-Atassi-Forum teil. Das Forum wurde 2004 geschlossen. Seit 2007 veröffentlichte Alassaf zahlreiche Essays in arabischen Zeitungen zu politischen und kulturellen Themen. Sein Essay über Religion und Säkularismus “Kommentar zu Yassin al-Haj Saleh – Ist der Säkularismus möglich im vereinten Land” wurde in eine Anthologie aufgenommen.
Zwischen verschiedenen Stipendien hat Assaf Alassaf Ende vergangenen Jahres sogar in einem Flüchtlingsheim in Berlin-Zehlendorf gelebt. „In einem Flüchtlingsheim kannst Du nicht schreiben“, erinnert er sich im Interview. „Wir lebten in einer großen Sporthalle mit 70, 80 Betten, einer Küche und ein paar Tischen. Gut, es gab Fernsehen. Aber das war’s auch. Es gibt zwar ein Leben, aber keine Privatsphäre. Du kommst nicht zum Nachdenken. Dabei war mein Flüchtlingsheim noch gut. Es gibt andere Heime mit 500, 600 Menschen.“
„Abu Jürgen“ von Alassaf ist eine Echtzeit-Story in Timeline-Posts über die zumeist vergeblichen Versuche, den deutschen Botschafter dazu zu bringen, Assaf Alassaf, den promovierten Zahnarzt, endlich nach Deutschland einzufliegen: „Die Leute stehen sich vor den Botschaften die Beine in den Bauch, um Visa zu bekommen, und ich kriege die ganze Zeit Einladungen für CandyCrush … Sagt mal, geht’s noch?“
Al Assaf steckte in Lebensgefahr – und fand dennoch genug Humor, um über das sehr nervige Facebook-Spiel „Candy Crush“ zu schreiben. Inzwischen ist er in Deutschland, aber seine Familie wartet weiterhin im Libanon. Ende November, Anfang Dezember lebte er in einem Flüchtlingscamp in Berlin-Zehlendorf, bevor er eine Einladung vom Literarischen Colloquium in Berlin bekam. Eine Zerreissprobe für einen Schriftsteller, für einen Akademiker, der es gewohnt ist, Zeit zum Denken zu haben, frei zu sein.
„Jeder von uns akzeptiert die Regeln. Jeder“, sagt er im Interview. „Flüchtlinge fühlen sich permanent unter Kontrolle. Überall scheinen Kameras zu sein. Die Polizei ist ebenfalls überall. Deshalb stehen wir alle bei Rot an der Ampel. Niemand raucht am Bahnsteig. Keiner macht Ärger, weil wir wissen: wir sind unter Kontrolle.
Sie alle versuchen, irgendwie klarzukommen: Der schreibende Zahnarzt Assaf Alassaf, die Short-Story-Autorin Rasha Abbas, die gerade mal wieder in Beirut lebende Übersetzerin Sandra Hetzl, die vielen verschiedenen Menschen, ob Künstler oder nicht, die sich gerade in Deutschland oder auf der Flucht nach Europa befinden. Viele von ihnen kommen aus Mittelstandsleben, die sich nicht von den unsrigen unterscheiden. Sie nutzen die gleichen Medien, wie Facebook oder Twitter – sie wollen endlich wieder ein normales Leben haben.
In Syrien leben Intellektuelle, die sich mit den gleichen aufklärerischen Gedanken beschäftigen wie wir, die uns viel näher sind, als es die Entfernung von knapp 3000 Kilometern vermuten lässt. Wenn man bedenkt, dass es nur 70, 80 Jahre her ist, dass deutsche Autoren wie Thomas Mann ins Exil gehen mussten, wundert es nicht, dass die Wünsche von Leuten wie Rasha Abbas oder Assaf Alassf die gleichen sind, die unsere deutschen Autoren umgetrieben haben.
„Das wichtigste ist, dass ich meine Asylsache durchbekomme und meine Familie nachholen kann, meine Frau und meine beiden kleinen Töchter, die aktuell noch in Beirut leben“, sagt Alassaf, „ich möchte, dass meine Kinder eine gute Ausbildung erhalten. Ich brauche sie. Und sie brauchen mich.“
BUCHTIPPS:
Assaf Alassaf; „Abu Jürgen: Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“, übersetzt von Sandra Hetzl, mikrotext Berlin, 122 Seiten, 3,99 Euro / Rasha Abbas: „Die Erfindung der deutschen Grammatik“, übersetzt von Sandra Hetzl, mikrotext Berlin, 160 Seiten, 3,99 Euro / Adonis: „Wortgesang. Von der Dichtung zur Revolution“, übersetzt von Rafael Sanchez, mit einem Vorwort von Stefan Weidner, S. Fischer Frankfurt a. Main, 298 Seiten, 22,99 Euro / Aboud Saeed: „Der klügste Mensch im Facebook“, übersetzt von Sandra Hetzl, mikrotext Berlin, 128 Seiten, 9,95 Euro / Nihad Siris: „Ali Hassans Intrige“, übersetzt von Regina Karachouku, Lenos Basel, 194 Seiten, 15,50 Euro / Régis Debray: „Lob der Grenze“, übersetzt von Nicole Neumann, laika Hamburg, 62 Seiten, 9,80 Euro / Dima Wannous: „Dunkle Wolken über Damaskus“, übersetzt von Larissa Bender, Nautilus Hamburg, 128 Seiten, 18,90 Euro / Gerhard Schweizer: „Syrien verstehen“, Klett-Cotta Stuttgart, 508 Seiten, 9,95 Euro / Mamdouh Azzam: „Wie ein ferner Herzschlag“, übersetzt von Regina Karachouli, Lenos Basel, 168 Seiten, 19,90 Euro
Sehr interessanter Artikel. Hoffe Sie veröffentlichen in regelmäßigen Abständen solche Artikel dann haben Sie eine Stammleserin gewonnen. Vielen dank für die Informationen.
Gruß Anna