Hirnkranke in der Schlaganfall-Reha, geheimnisvolle Iraner, Möchtegern-Punks und schüchterne Sexualopportunisten bilden das „Randgruppen“-Milieu in Frédéric Valins großartigem Kurzgeschichtenband. Der 28-jährige Wahl-Berliner beschreibt in sehr prägnanten Stories Menschen, die nichts zu tun haben, mit den Prenzlauer Berg-Familien aus etlichen Romanen vergangener Jahre. Ein Aufstand in Worten!
Da gibt es diesen Pfleger, der auf einer neurologischen Krankenstation arbeitet: „Dreieinhalbtausend Leute wohnen hier, alle behindert oder bekloppt oder beides. Schlaganfälle, Mongoloide … ach, das darf man ja nicht mehr sagen. Down-Syndromatiker, Autisten, Querschnittslähmungen, der ganze Scheiß, von jedem eine Abteilung voll.“ Da gibt es die Schlaganfallpatienten, halbseitig gelähmt, die Frontalhirnschäden, die den Charakter demolieren, es gibt die mit Magensonde und Luftröhrenschnitt, die Begriffsstutzigen und Begriffsvergessenen, die Verrückten, Lahmen und Renitenten, wie der eine Patient, der sich partout nicht waschen will. – „Deswegen haben wir uns da was überlegt. Wir machen das inzwischen so: Morgens um sechs klauen wir ihm die Klamotten aus dem Zimmer und legen ihm das Handtuch rein. Die Klamotten kriegt er erst wieder, wenn er duschen war.“
Auf dieser Station werden Menschen bevormundet, die in Datingportalen abhängen, kaum Verwandten-, keinen Freundesbesuch bekommen. Diesen armen Schweinen will der Pfleger in Frédéric Valins Geschichte Lebenswürde zurückgeben – auch wenn damit der Tod verbunden ist. Es geht um Sterbehilfe und Randgruppenmitglieder, die aus unserer Gesellschaft herausgefallen sind, die keine Werbekunden, keine Konsumenten mehr sein können.
Frédéric Valins verdammt guter Kurzgeschichtenband versammelt sechs grenzwertige Portraits, zum Beispiel über einen geheimnisvollen Iraner, der als Obdachloser in eine WG gerät. Mimoun heisst er. Keiner weiss, woher er gekommen ist: „Wir gaben ihm eine Decke, und ohne ein Wort zu sagen schlief er einfach ein. Er schnarchte nicht. Er träumte nicht. Er brummte nicht einmal. Nur seine Nase kräuselte sich, wenn er träumte.“ Mimoun ist schüchtern, haltlos, blickt stets auf den Boden. Seine Sätze sind flehend: „Ihr habt doch dieses Wohnzimmer. Ist das frei? Ich hab nichts mehr.“ Er trägt ein dunkles Geheimnis mit sich. So viel ist den anderen klar. Minoun bietet sich als Diener seiner Kameraden an. Er kocht für alle WG-Bewohner, er sammelt die Teller nach dem Essen ein und fragt, ob jemand noch einen Kaffee wünsche. Er hält die Wohnung warm, dreht im Winter die Heizung auf. Er holt zu allem, was er tut, Erlaubnis ein – bis sein dunkles Geheimnis ans Tageslicht gerät:
Oder die Geschichte „Grenzen“ , die beginnt mit dem irritierenden Satz. „Ich weiß nicht, wann ich gestorben bin“, die endet mit einer schamvollen Erkenntnis, dass die wenige Seiten lange Schilderung eines Totgeweihten so pathetisch geklungen hat. Verzeiht! Wir leben in einer Zeit, die kein Pathos duldet. Pathos wurde schließlich nach 1945 eingetauscht gegen die nüchterne Bonner Republik-Sicht, aus Albert Speer-Palästen wurden schlichte Kanzel-Bungalows und auch das Sterben bekam neue Bilder zugeordnet.
Aber das stört „Randgruppenmitglied“ nicht. Egal, ob es um passive Sexualopportunisten geht, denen „Frauen zugestoßen waren“ oder um 14-jährige Möchtegern-Punks in Cottbus („wir hatten eine ungefähre Vorstellung von Unangepasstheit“) – immer wieder drückt Frédéric Valin den Auslöser im exakt richtigen Moment ab, hat in seinen Snapshots jedes Mal die prägnanten Bilder drauf, die prägenden Bewegungen, die unanfechtbaren Belege für seine Plots und es juckt ihn keineswegs, wenn sich Pathos einschleicht. Sterben ist hart. Arm sein auch. Stilsicher nennt man solche Prosa – und talentiert.
Der 1982 im allgäuischen Wangen geboren Frédéric Valin ist ein Geistesbruder von „Räuberhände“-Autor Finn-Ole Heinrich: Engagiert. Interessiert. Sozialkritisch. Nach eigenen Angaben verlebte er übrigens „eine Jugend zwischen zugeschissenen Hügeln und Kirchenglocken“. Erst 2003 kam er ins große Berlin und studierte dort Deutsche Literatur und Französisch. Frédéric Valin hat Übersetzungen und „Texterkram“ gemacht, Französisch unterrichtet, Festivals organisiert, geraucht, die Lesebühne „Read on, my dear“organisiert und Sachen aufgeschrieben, unter anderem als Autor bei Spreeblick, in der Jungle World und der taz. Auf seiner persönlichen Homepage schreibt der engagierte Autor über: Krankheit, Mythen, Strafrecht, Subkultur und darüber „was nicht fehlt“.
Konkret: Er zitiert Gedanken über den Untergang einer linken Verlegerszene aufgrund renditehungriger Großbanken, er schreibt über den Unterschied zwischen einem Wohlfahrts- und einem Almosenstaat, über „die Verstärkung des Strafrechtsstaats“ und weshalb „das Gefängnis“ symbolische Machtverhältnisse materialisiert. Rot ist sein Buch im Verbrecher Verlag, Gelb die Homepage – da ist man schon direkt drin, im Farbenspiel des 1968 gegründeten März-Verlages, dessen Veröffentlichungen (Amends „Sexfront“, Brinkmanns „ACID“, Sinclairs „Der Dschungel“) mit Sicherheit im Bücherregal von Frédéric Valin stehen: Realismus abgreifen.
(Frédéric Valin: „Randgruppenmitglied“, Verbrecher Verlag, 122 Seiten, 13 Euro)
[…] sozial-engagierten Charakter hatten wie sein Erzählungsdebüt „Randgruppenmitglied“ 2010 (hier im Blog), in dem Geschichten über Kranke, Psychotiker, Gescheiterte, Ausgeschlossene erzählt […]