Er ist hart. Er ist melancholisch. Er ist der Literaturstar des Frühjahrs: Clemens Meyer, der nun seine Geschichtensammlung „Die Nacht, die Lichter“ veröffentlicht.
Es gibt Katastrophen, die kündigen sich überraschend zaghaft an: „Es begann damit, dass sein Hund plötzlich anfing zu humpeln und dann ganz stehen blieb“, heißt es im neuen Erzählungsband „Die Nacht, die Lichter“ von Clemens Meyer. So etwas muss nicht zwangsläufig im großen Niedergang enden. Humpeln ist nicht tödlich. Aber weil Rolf, Held der Kurzgeschichte „Von Hunden und Pferden“, einen mickrigen Hartz-IV-Satz bezieht, fehlen die 3000 Euro für eine rettende, für eine lebensrettende OP. Und der Tod, die Katastrophe, steht scheinbar unausweichlich vor ihm und seinem treuen Kameraden. Gibt es wirklich keine Chance?
Es ist diese Frage, die aus dem drohenden Tod des Tieres ein existenzielles Problem für seinen Besitzer macht. 200 Seiten weiter, in einer ganz anderen Geschichte, muss ein alter Bauer sein Vieh erschießen, weil niemand den Hof kaufen, weil kein Mensch dieses angebrochene Leben weiterführen will. Trostlos erscheint auch der dicke, verschwitzte, einsame Mathelehrer („Der Dicke liebt“). Dieser Mann findet an seinem Arbeitsplatz, in der Schule, die unnahbare, reine Liebe. Er findet sie in Juli, seiner kleinen Schülerin und ab da wird es ziemlich ekelig. „Ist es verboten, mit Juli Eis essen zu gehen?“ Ist es verboten, ein bisschen Freude festhalten zu wollen?
Die Menschen in Clemens Meyers 16 Stories sind arme Schweine. Manchmal erscheinen sie als gefallene Kämpfernaturen, sie sind immer müde Recken und lebensfertige Außenseiter, die ihr letzten Spiel mit dem Rücken zu Wand ausfechten. Die Nacht ist ihr Biotop, Lichter scheinen woanders, weit weg von Knastzellen, Lagerhallen, Kaschemmen, weit weg von ihnen, von ihrer schummrigen Restexistenz; Fernab aller Chancen. Allein Rolf, der Hundefreund, hat für einen kurzen Moment Glück. Durch Zufall gewinnt er 4500 Euro beim Pferderennen. Wie trunken taumelt er, die Scheine in der Jackentasche, weiter Richtung Stadtrand, Richtung Osten, wo er wohnt, und er sieht nicht die drei Männer, die hinter ihm laufen… Hier bricht der Text ab. Aber im Kopf bleibt die Geschichte doch, tagelang. Wie schafft Clemens Meyer das?
Als er den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, sprang Clemens Meyer wie ein Boxchampion auf, die geballte Faust nach oben gereckt. Wo andere Autoren artig ihren Dichterschemel verlassen, um dankbeflissen Richtung Bühne zu schlurfen, kippte der Leipziger erst einmal ein Bier und sagte: „Ich hatte mir viel Unsinn überlegt, den ich hier sagen wollte. Ich habe aber heute schon genug Unsinn erzählt, also sage ich nichts und schreibe weiter Bücher.“ Es soll Menschen geben, die behaupten, allein der Text sei wichtig, der Autor habe keine Relevanz. Clemens Meyer, der ehemalige Bauhelfer, Möbelträger, Wachmann und Sozialhilfeempfänger beweist das Gegenteil. Seine Geschichten bleiben im Kopf, weil das Bild des tätowierten, kraftmeiernden Meyers dazugehört, Erinnerungsstütze ist. Clemens Meyer ist ein Genie, in jeder Hinsicht – was er schreibt, das bleibt.
Clemens Meyer: „Die Nacht, die Lichter“, Fischer, 18,90 Euro, 272 Seiten