Wie stehen sie zusammen, im Jahr 2016, Games und Literatur? Das habe ich anlässlich der „Gamescom“ von WASD-Chefredakteur Christian Schiffer (Beitragsbild) wissen wollen, der vom Messegelände zum „Büchermarkt“ gekommen ist – um wie immer inspirierende Ansätze und Verbindungen mitzubringen. Christian Schiffer kenne ich seit dem Sammelband „New Level“, herausgegeben von Thomas Böhm, für das ich 2014 ein literarisches Online-Rollenspiel entworfen habe. Christian Schiffer wird seit Jahren als Radio- und Fernsehfeatureautor abgefeiert. Zu Recht.
Nach dem Interview saßen Christian Schiffer und ich zusammen und sprachen über Games. Es verwundert mich nämlich, dass Deutschland mit SAP oder Siemens hervorragende Leistungen im digitalen Bereich abliefert (vergessen wir Stuxnet und denken lieber an Konrad Zuse), aber in der Games-Industrie kaum eine Rolle spielt. Eine der Erklärungsansätze von Christian Schiffer finde ich bemerkenswert. Denn natürlich gab es auch hierzulande die legendären Arcade-Automaten, die übrigens so heißen, weil sie für amerikanische Shopping-Malls, für Einkaufsarkaden, konzipiert worden sind. Doch in den 1980er Jahren wurden diese Automaten in Deutschland als Glücksspiele eingestuft, ab 18 Jahren freigegeben und in diese fürchterlichen Spielhöllen verbannt. Für Jugendliche waren diese Games nicht mehr verfügbar. Es fehlte ganz klassisch an einer Ausbildungsmöglichkeit für spätere Spieleprogrammierer.
Stattdessen wurden PC-Spiele beliebt. Weil diese oft mit der Maus und der Tastatur gesteuert wurden, konnten sie zwar komplexer werden; da aber PCs üblicherweise im Arbeitszimmer standen, hatten deutsche Spiele schnell etwas von Windows-Versionen (und die verschiedenen Simulatoren werden selbst heute noch in ähnlicher Aufmachung vertrieben). Großes Erzählen gab es nicht, weshalb Deutschland kaum geeignet ist für ein Gespräch über den Zusammenhang von Games und Literatur. Hierzulande werden am Computer Fußballvereine geleitet und Landmaschinen konzipiert. Deshalb landeten wir auch schnell in den USA – und in Osteuropa.
Christian Schiffer, Computerspiele sind sowohl Big Business, als auch Kulturgut, Kunst und Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Mit der Ludologie hat sich eine Lehre des Spiels herausgebildet, vergleichbar mit den Literaturwissenschaften. Aber wie ist es bestellt um das Erzählen im Computerspiel? Und wie ist das Verhältnis zum gedruckten Buch? Gab es auf der Gamescom Spiele, bei denen Sie sagen würden: Das setzt erzählerisch neue Maßstäbe? Nicht besonders viele, muss man sagen, denn die Gamescom ist eine Leistungsschau der Industrie. Dort werden Mainstreamtitel ausgestellt. Das ist wie Blockbusterkino. Die erzählerisch interessanten Spiele findet man nicht auf der Gamescom, sondern eher auf kleinen Festivals, auf kleinen Kunstveranstaltungen, teilweise auch im Internet. Auf der Gamescom stehen vor allem Panzer rum. Es geht um Egoshooter, es ist martialisch, es geht um Explosionen. Die großen, wirklich epischen Geschichten findet man dort eher am Rande.
Doch gibt es wahrscheinlich das eine oder andere Spiel, das sich anlehnt an Literatur. Es gibt ja inzwischen sogar schon einen eigenen Wikipedia-Eintrag zu Spielen, die auf Büchern basieren. Das ist richtig, und zwar in der englischen Wikipedia. Dieser Artikel, also diese Kategorie, ist allerdings nicht besonders umfangreich, vor allem, wenn man sie vergleicht mit der Kategorie Computerspiele, die auf Filmen basieren. Ich würde sagen, dass in dieser Wikipedia-Kategorie Titel um den Faktor 50 bis 100 angegeben werden. Da sehen wir schon, dass sich die Computerspiele in den letzten 40 Jahren weniger an Literatur orientiert haben als vielmehr am Film. Das war das Medium, dem Computerspiele immer nachgeeifert haben. Mittlerweile kehrt sich das Verhältnis etwas um. Man sieht in der Filmästhetik, dass sie sich immer mehr an Computerspielen orientiert. Aber tatsächlich scheint es so zu sein, dass Bücher als Vorlagen etwas unterrepräsentiert sind, auch wenn vielleicht diese Wikipedia-Kategorie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder große Spiele gesehen, die auf Büchern basieren; im letzten Jahr das großartige, international mit Preisen überhäufte „The Witcher“ zum Beispiel, das basiert auf der „Witcher“-Serie aus Polen. Das ist so das polnische „Herr der Ringe“, sehr, sehr populär, und es wurde ein großartiges Spiel daraus gemacht. Wir müssen dann auch in Osteuropa weitermachen, wenn wir vor allem gute Spiele suchen, die auf Büchern basieren. Da gab es, ich glaube, vor zehn Jahren ungefähr, „Stalker“ – das basierte auf „Picknick am Wegesrand“, spielte in Tschernobyl in so einer ganz, ganz depressiven Umgebung, so ein bisschen endzeitlich – und dann „Metro“. „Metro“ ist von einem russischen Autor, ich glaube, es hieß „Metro 2033“, das spielt in den U-Bahn-Stationen von Moskau. Auch das ist ein schönes Endzeitbuch, einfach mal in einer anderen Umgebung. Auch ein ganz, ganz fantastisches Spiel. In Osteuropa steht augenscheinlich auf düstere Inhalte und traut sich eher an Bücher heran, wenn es um Computerspiele geht. In Deutschland ist das eher selten. Da ist wichtig, dass der Verlag Bastei Lübbe vor zwei Jahren ein großes oder vielmehr mittelgroßes Spielestudio übernommen hat.Daedalic heißt es. Es ist sehr, sehr renommiert für Grafikadventures. Die planen tatsächlich mehrere Buchumsetzungen als Computerspiele und wollen anfangen, mit „Säulen der Erde“, also dem Bestseller von Ken Follett.
Der Expressionismus ist nicht ablösbar von Film und Literatur. Literatur und Film haben dort die ganze Zeit lang miteinander zu tun gehabt, haben sich gegenseitig beeinflusst. Das geht beim Film und der Literatur weiter bis hin zu Arno Schmidt. Es gibt aber auch Telefonromane, es gibt Chatromane. Gibt es daran angelehnt Romane, große Geschichten, die sich an die Erzählweise von Games anlehnen? Wenn wir jetzt nicht über Hochkultur oder Hochliteratur reden, kommt man wahrscheinlich nicht umhin, zumindest die Abenteuerromane aus den 80er-Jahren kurz zu erwähnen. Das waren interaktive Bücher, wo man dann Entscheidungen treffen musste, und dann hieß es, „lesen Sie weiter auf Seite 31, wenn Sie das gemacht haben“. Das hat man als 14-Jähriger gerne angeschaut, fand es zwei Wochen spannend und hat es dann weggelegt, aber das war sozusagen im ganz klassischen Sinne nicht-lineare Erzählweise in Form, wenn man so möchte, von Literatur. Wenn wir jetzt in die etwas höhere Sparte gehen, da muss man sagen, dass vielleicht nicht die Erzählweise aufgegriffen wird, aber natürlich die Themen, die Computerspiele haben, wenn beziehungsweise Computerspiele selber zum Thema werden. Cory Doctorow hat einen Roman geschrieben. „For the win“ hieß der. Da ging es um chinesische Goldfarmer. Das sind Leute, die für Spiele wie „World of Warcraft“ ihre Helden rumschicken, um virtuelles Gold zu erwirtschaften, das sie dann in die westliche Welt verkaufen. Im Roman gründen die dann eine Gewerkschaft und wehren sich gegen diese neue Form der Ausbeutung. Das ist zum Beispiel ein Buch, wo ganz klar Online-Rollenspiel ein Thema ist. Ein anderes Buch, das auch ein Computerspielgenre im Prinzip thematisiert, ist „Ganz normale Helden“ von Anthony McCarten. Da geht es eigentlich um eine Familiengeschichte, die aber dann abgleitet in ein Online-Rollenspiel. Jan Fischer wiederum, ein junger Autor aus Hannover, hat „Ihr Pixelherz“ geschrieben. Auch das thematisiert Computerspiele. Was mir aber tatsächlich fehlt, und das wundert mich sehr, ist tatsächlich der große, große, große Poproman, der Computerspielleidenschaft thematisiert. Mir fehlt wirklich das „High Fidelity“ oder das „Fever Pitch“ der Computerspielkultur; also den großen Poproman, wo man sich als Gamer richtig wiederfindet, der sich vielleicht auch ein Stück weit lustig macht über diese Leidenschaft oder es zumindest ironisiert – so ein Buch, wo man das dann liest und die ganze Zeit das Gefühl hat: „Ja, genau so ist das!“ – Und das dann sehr gegenwärtig diese Kultur einfängt.
(Der „Deutschlandfunk“-Originalbeitrag ist übet diesen Link zu erreichen.)