Als Thriller-Drama ist Jessica Linds zweiter Roman „Kleine Monster“ angelegt. Die Open-Mike-Gewinnerin von 2015 beeindruckt mit einer Regretting-Motherhood-Geschichte, die sich langsam entwickelt zu einer vielfach gefalteten Fallhistorie über Missbrauch, Familiengewalt und falsch verstanden Liebesverständnisse.

Die Unübersichtlichkeit ist Wesen nahezu aller Traumatisierungen. Deshalb arbeiten psychoanalytische Therapien mit Techniken der Narration. Patientinnen und Patienten lernen ihre sie selbst verwirrende Geschichte zu erzählen. Denn nur was erzählt wird, kann auch heilen. In Jessica Linds Suspense-Roman „Kleine Monster“ eröffnet die ebenfalls traumatisierte Ich-Erzählerin Pia irgendwann „eine Liste der Dinge, die verboten waren“, findet in dieser Erzählform endlich eine Übersichtlichkeit, eine Sortierung. Sie rubriziert die toxischen Regeln ihres Elternhauses. Nicht erlaubt waren in ihrer Kindheit und Jugend unter anderem:

„– mit auf Schikurs fahren
– ausgehen
– vom Zehn-Meter-Brett springen
– vom Fünf-Meter-Brett springen
– vom Drei-Meter-Brett springen
[…]
– ausschlafen
– Alkohol
– rauchen
– Beine rasieren
– Make-up
– ein fester Freund“

Misstrauen und Wut

Als Pia diese Liste zusammenstellt, ist sie längst selbst Mutter des siebenjährigen Luca. Die gelernte Schreinerin arbeitet in einem Antiquitätenladen, ist verheiratet mit dem fürsorglich-unerschütterlichen Jakob, sie lebt kleinbürgerlich, ein wenig versteckt. Äußerlich verläuft ihr Alltag in ruhigen Bahnen. Innerlich ist Pia zerrüttet, denkbar entfremdet von ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie traut ihrer Sicht auf die Wirklichkeit an kaum einer Stelle. Diese Realitätstrübung ist ihrer Ansicht nach begründet in gewalttätigen, an Gaslighting erinnernden Erziehungsmethoden der eigenen restriktiv strukturierten Mutter. Angelehnt an William Faulkners vielzitiertem Satz ist auch für sie das Vergangene keinesfalls tot, es ist nicht einmal vergangen. Pia und ihre adoptierte Schwester Romi wurden nach einem Unglücksfall über viele Jahre von der eigenen, mal fürsorglichen, dann wieder gewalttätigen Mutter emotional missbraucht. Diese Mutter ist nun die Großmutter von Pias Sohn.

„Ich hatte drei Mütter. Die erste war gut und lieb, streng, aber gerecht. Die zweite war kalt und verschlossen. Die dritte lächelt immerzu und backt Apfelkuchen.“ Pias Kindheit, die Erlebnisse mit ihrer Mutter auf der einen, ihr bürgerliches Leben als Erwachsene auf der anderen Seite werden in Jessica Linds „Kleine Monster“ erzählt. Selbst ein Kind zu haben, stellt die junge Mutter vor eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Misstrauen, eine permanente, unterschwellige Wut und große Verlustängste prägen das Wesen dieser Frau, die schier zerbirst unter dem so mühsam Verdrängten, sodass seltsamste Horrorszenarien durch ihren Alltag wabern.

„Ein Kind verlieren. Wenn man im Supermarkt kurz nicht aufpasst und das Kind versteckt sich zwischen Nudeln und Packerlsuppen. So klingt das. Und dann wird es ausgerufen, du nimmst es mit, gibst ihm Abendessen, putzt ihm die Zähne und deckst es zu. Aber etwas ist seltsam. Ein Unbehagen beschleicht dich, als hättest du das falsche Kind mit nachhause gebracht.“

Der eigene Sohn ein Monster

Mit diesen Worten eröffnet ein mehrspurig erzähltes Familiendrama. Hilflos sucht diese Pia nach Formen, um durch äußere Beschränkungen inneren Trost zu finden – egal welchen. Doch ein zunächst nicht näher genanntes Fehlverhalten ihres siebenjährigen Sohns erodiert das mühsam aufgebaute Lebensgerüst, Pias fragiles Mittelstands-Imitat. Augenscheinlich hat ihr Kind eine kleine Mitschülerin auf sexuell verwerfliche Art und Weise bedrängt. Der Junge schweigt, leugnet, beschwichtigt. Seine Lehrerin macht lediglich Andeutungen, will den Fall zunächst untersuchen. Auf diese ungeklärte Situation reagiert Pia verunsichert und fragt sich, ob ihr Sohn – dem Titel dieses Romans entsprechend – ein kleines Monster ist.

„Lucas Atem geht gleichmäßig, er ist eingeschlafen. Ich greife nach meinem Telefon auf dem Nachtkästchen. Den ganzen Nachmittag habe ich gegoogelt. ‚Verhaltensauffällige Kinder’, ‚Kinder Sexualität’, ‚Kinder zum Reden bringen’. Mir raucht der Kopf von den ganzen Seiten und Foren. Ich öffne die WhatsApp-Gruppe der Eltern. Dass keine Nachrichten gekommen sind, hat mich eigentlich beruhigt. Jetzt sehe ich, warum. Ich wurde aus der Gruppe entfernt.“

Massive Störungen können die Psyche einer traumatisierten Person aufpeitschen, so wie ein Erdbeben das trügerisch ruhige Meer in brüllende Tsunamiwellen verwandelt. Die intermittiernde Handlungsführung, Cliffhanger, unmerklich gesetzte Plot Points und eine fortlaufende Geschwindigkeitserhöhung machen dieses dramaturgisch höchst vertrackte Buch zum literarischen Pageturner. Pia phantasiert, etwas Unbezwingbares bräche über sie und ihre Familie hinein und flüchtet in „bella figura“, also erneut in eine künstliche Form der vermeintlichen Gesichtswahrung. „Und ich bin gut darin geworden, unauffällig zu sein, wenn ich meinen Namen höre, nicht den Kopf in die Richtung zu drehen, sondern beschäftigt auszusehen, während ich konzentriert lausche.“

Der gleichförmige Erzählduktus, die klare, im Ton stets auf gleicher Ebene bleibende Sprache steht diametral zum Inhalt dieser Roman, zur sich überschlagenden Ereignishaftigkeit dieses hoch gelungenen Textes. Anfangs changiert „Kleine Monster“ zwischen einer „Regretting Motherhood“-Fabel und Yasmina Rezas brillantem Theaterstück „Der Gott des Gemetzels“, findet im weiteren Verlauf Anklänge an die verstörenden Gewaltstudien „Caché“ oder „Das weiße Band“ von Michael Haneke, um später mit Kammerspiel-, Thriller- und Märchenmotiven zu spielen. Dennoch verlässt diese Geschichte an keiner Stelle ihre Glaubwürdigkeit, noch das Märchenhafte wirkt möglich, ist eingebettet in die verrückte Wahrnehmung Pias, die als Mutter ebenso bedroht wie bedrohlich erscheint. Man vermutet unweigerlich ein Ende mit Schrecken – und folgt tatsächlich einem Schrecken ohne Ende, der lebenslange Bürde eines Menschen, der bereits in frühen Jahren mit einer Wunde geschlagen wurden, die sich nur langsam, möglicherweise niemals schließt.

Jessica Lind: „Kleine Monster“, Hanser Berlin, 258 Seiten, 24 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

Empfohlene Artikel